schöne grüße rundum, tw




Junge Freiheit, Nr. 40,  29. September 2006

Alexander Pschera : Im Geist noch ungetrennt. Jüngers Lektüren, dreizehnter und 
letzter Teil der JF-Serie: Ernst liest seinen Bruder Friedrich Georg Jünger – 
stereoskopisch


Ernst Jünger wird immer wieder als ein „scharfer Beobachter“ apostrophiert. Die 
Schärfe seines Blicks verdankt sich allerdings weniger der Konturierung, der 
Fokussierung und damit der Weglassung. Jüngers Blick ist nicht scharf im 
Zentrum und unscharf am Rand. Dieser Blick abstrahiert nicht von der lebendigen 
Fülle des Gesehenen. Im Gegenteil: Die spezifisch Jüngersche Optik, die man die 
„stereoskopische“ nennt, gelangt durch eine erweiterte Wahrnehmung zu 
mehrdimensionalen, plastischen Bildern. Das Auge ist dabei nur eines der 
beteiligten Sinnesorgane.

Die stereoskopischen Bilder gehen gerade deswegen über das rein optisch 
Erfaßbare hinaus, weil sie das Ergebnis einer synästhetischen Wahrnehmung sind. 
Dabei wird – die schönsten Beispiele hierfür finden sich im „Abenteuerlichen 
Herzen“ – nicht selten Disparates, Entgegengesetztes, ja logisch nicht 
Korreliertes in eine sprachliche Gestalt gebracht. Dies hat unter anderem dazu 
geführt, Jünger als surrealistischen Autor einzuordnen.

Jünger war nun nicht nur ein scharfer Beobachter, er war bekanntlich auch ein 
genauer Leser. Die Ergebnisse seiner Lektüre sind, zu Bildern und Bezügen 
verdichtet, wichtiger Teil seines Werks. Lesen ist aber nichts anderes als eine 
Form der Beobachtung: Der Leser beobachtet die Welt, die der Text vor ihm 
ausbreitet. Der Gedanke drängt sich also auf, daß auch hier ein 
stereoskopischer Blick, eine dialektische Optik am Werk ist. Wenn Jünger so 
liest, wie er beobachtet, dann liest er sozusagen nicht nur mit einem Auge, 
nicht nur mit einem Sinn.

Der Begriff des „stereoskopischen Lesens“ kann einige von Jüngers 
Lektürebewegungen aufschließen. Stereoskopisch lesen heißt unter anderem: 
komplementär lesen. Die stereoskopische Lektüre betrachtet, gleichsam simultan 
und damit ebenso schwindelerregend wie der stereoskopische Blick, beide Seiten 
der Medaille. Sie integriert die dialektischen Gegensätze und formt aus ihnen 
eine Einheit: nicht im Sinne der Hegelschen Dialektik, die ein progressives 
Fortschreiten impliziert, sondern vielmehr im Sinne des Erfassens eines 
umfassend in der Welt und im Kosmos bereits Vorhandenen. Hamann und Kant, 
Goethe und Newton, Vico und Cartesius sind entgegengesetzte Autoren, die in der 
stereoskopischen Lektüre sich zu einem Ganzen fügen: Offenbarung und 
Erkenntnis, Sprache und Logik finden für den stereoskopisch Lesenden wieder 
zusammen. Der stereoskopische Blick synthetisiert, was durch die 
Entwicklungsgeschichte des Menschen isoliert wurde. Er gibt den Phänomenen ihre 
integrale Gestalt zurück. Die stereoskopische Lektüre setzt zusammen, was die 
Geschichte des Geistes trennte. Sie führt damit zurück zu einer ursprünglichen 
Einheit.

Diese wiedererlangte Einheit ist notwendigerweise frei von subjektiven 
Blickwinkeln. Deshalb bezeichnet Jünger sie im Zusammenhang mit der Lektüre der 
Texte seines Bruders Friedrich Georg, die man „stereoskopisch“ nennen könnte, 
als eine „neue Objektivität“. Er entwickelt diesen Gedanken am Verhältnis des 
„Arbeiters“ zu dem Buch seines Bruders, das zunächst „Illusionen der Technik“ 
hieß und später in „Die Perfektion der Technik“ umbenannt werden sollte: „Mein 
‘Arbeiter’ und Friedrich Georgs ‘Illusion der Technik’ gleichen dem Positiv und 
dem Negativ eines Lichtbildes – die Gleichzeitigkeit der Verfahren deutet auf 
eine neue Objektivität, während der enge Geist nur den Widerspruch darin 
erblicken wird“ („Strahlungen“, 11. März 1943).

Die dialektische Optik des stereoskopischen Blicks auf den Text hebt seine 
Vereinzelung auf. Die beiden Werke, die oberflächlich als zwei widersprüchliche 
Ausprägungen eines Ausgangszustandes, als divergierende Thesen, erscheinen, 
offenbaren sich dem doppelten Auge als im Wesen identisch. In der 
vorbegrifflichen Seinsweise, „im Geiste“, wie Jünger sagt, sind beide 
„ungetrennt: „Zum ‘Arbeiter’. Die Zeichnung ist genau, doch gleicht er einer 
scharfgestochenen Medaille, der die Rückseite fehlt. Es wäre in einem zweiten 
Teil zu schildern die Unterstellung der beschriebenen dynamischen Prinzipien 
unter eine ruhende Ordnung von höherem Rang. Wenn das Haus eingerichtet ist, 
gehen die Mechaniker und die Elektrotechniker hinaus. Wer aber wird Hausherr 
sein? Wer weiß, ob sich für mich noch einmal die Zeit, hier wieder anzuspinnen, 
finden wird? Doch glücket Friedrich Georg in dieser Richtung mit seinen 
‘Illusionen der Technik’ ein bedeutender Schritt. Das zeigt, daß wir doch wahre 
Brüder sind. Im Geist noch ungetrennt“ (17. März 1943).

Ernst liest die Texte seines Bruders Friedrich Georg also als das, was die 
seinen selbst nicht sind. Sein Werk ist nur die eine Seite der Medaille – oder 
das Positiv des Lichtbildes. Es bedarf der Ergänzung durch das Werk des 
Bruders. Die stereoskopische Lektüre der zwei Texte ist ein Verweis auf die 
komplementäre Ästhetik der Brüder Jünger. Ernst Jünger vertraut offensichtlich 
darauf, daß das Werk seines Bruders als Ergänzung und Korrektiv seines eigenen 
Schreibens entsteht – und das gilt nicht nur für den „Arbeiter“. Setzt man die 
stereoskopische Perspektive an das Opus integrum der beiden Brüder an, so 
werden eine Vielzahl von Entsprechungen sichtbar, die tief hinab bis in die 
Kategorien des Seins reichen. So erfassen Ernst Jüngers Tagebücher die erlebte 
Zeit aus der Perspektive der Gegenwart. Der Augenblick, das Jetzt bestimmt 
ihren Duktus. Friedrich Georg hat keine Tagebücher veröffentlicht, er hat 
vielmehr zwei Erinnerungsbücher vorgelegt („Grüne Zweige“ und „Spiegel der 
Jahre“), in denen die vergangene Zeit im Rückblick und nicht ohne 
Sentimentalität gestaltet wird.

Raum tritt bei Ernst Jünger stets als eine geordnete Kategorie auf, die der 
immer wieder offenen Zeit des Tagebuchaugenblicks gegenübergestellt wird. Von 
der verräumlichten, organisch-organisierten Zeit der Sanduhr über die 
topographisch wohl gegliederten fiktionalen Landschaften der „Marmorklippen“ 
oder von „Heliopolis“ bis hin zu Raumbildern der Sicherheit selbst noch in den 
„Stahlgewittern“, in denen der Unterstand zu einem Refugium der Behaglichkeit 
werden kann, läßt sich diese Konsolidierung des Raumes gegenüber der Zeit 
verfolgen.

In Friedrich Georgs Erzählungen hingegen öffnet sich der Raum immer wieder in 
die Unordnung, in die Wildnis, ins Unterholz, in eine Zone des Fremden. Dieses 
Fremde kann sich dann auch, beispielsweise in Gestalt der Laura in der 
gleichnamigen Erzählung, personifizieren oder sich in Orten der Unbehaustheit 
wie Ziegeleien, Steinbrüchen und Windmühlen verdichten. Der dichterische Blick 
sucht nicht, die Erscheinungen in eine Ordnung und in ein System zu bringen, im 
Gegenteil: Er verliert sich bereitwillig und ausdauernd in den Unschärfen des 
Dickichts, weil dieses dazu angetan ist, seine Phantasie anzuregen. Die 
Unordnung wird bei Ernst Jünger selten zu einem solchen Antrieb für 
Imagination. Sein Erzählen tendiert folgerichtig zur Allegorie. Für Friedrich 
Georg ist diese Unordnung real, präsent, herausfordernd. Sie verleitet ihn 
demnach zur Offenheit des Erfindens, zur Suche, zur Fiktion.

Die stereoskopische Lektüre des Jüngerschen Zwillingswerks, auf deren 
Notwendigkeit Ernst Jünger selbst hinweist, öffnet den Blick für eine Vielzahl 
von Spiegelungen und Verzahnungen. Immer wieder trifft der Leser in den 
Tagebüchern auf Einträge, in denen Ernst Jünger aktuelles Erleben nicht 
ausformuliert, sondern auf die literarische Gestaltung, ja auf das „Vorerleben“ 
durch den Bruder verweist, so beispielsweise am 4. September 1965 („Siebzig 
verweht I“): „Wir gleiten an der Küste von Sumatra entlang, an Inseln und 
Orten, die wie aus vorgelebten Zeiten in der Erinnerung anklingen. ‘Palembang’ 
hieß eines der Jugendgedichte Friedrich Georgs.“ Am 22. Juni 1972 notiert Ernst 
Jünger: „Im übrigen: solus cum sole. Als ich im grünen Wasser des Taurus 
schwamm, gedachte ich des Obersten von Oppen, der hier 1918 kurz vor Ende des 
Krieges an der asiatischen Cholera gestorben ist. Er liegt in diesen Bergen 
begraben – was bleibt von unseren Schicksalen? Am längsten vielleicht das 
Gedicht, das Friedrich Georg ihm gewidmet hat.“

Der Verweis nimmt das Werk des Bruders ins eigene auf. Er öffnet außerdem, 
zumal im wörtlichen Zitat, den Raum des lyrischen Sprechens. Gerade hierin 
erweist sich die Komplementarität der beiden dichterischen Stimmen. Denn Jünger 
hat sicher auch deswegen keine Gedichte geschrieben, weil er wußte, daß sein 
Bruder das für ihn tat.

An exponierten Stellen des Tagebuchs, an denen lyrische Emphase angebracht ist, 
wechselt Ernst Jünger denn auch sinnfällig ins dichterische Sprechen. Dann 
leiht ihm sein Bruder eine Sprache, die die eigenen Beobachtungen und Notate 
ins Zeitlose überhöht, aber auch die Funktion hat, ein verdecktes, getarntes 
Sprechen in schwieriger Zeit zu ermöglichen. Lektüre und Schreiben greifen dann 
nahtlos ineinander. Das eine ist die Voraussetzung des anderen – und umgekehrt: 
„Am Namen ‘Litzmannstadt’ wird deutlich, welche Ehrungen Kniébolo zu spenden 
vermag. Er hat den Namen dieses Generals, den Schlachtensiege zierten, auf alle 
Zeiten mit einer Schinderhütte verknüpft. Das war mir doch von Anfang an 
deutlich, daß seine Auszeichnungen am meisten zu fürchten seien, und ich sagte 
mit Friedrich Georg: Ruhm nicht bringt es, eure Schlachten / Mitzuschlagen. / 
Eure Siege sind verächtlich / Wie die Niederlagen“.

 

Dr. Alexander Pschera ist Germanist. Im Rahmen dieser JF-Serie sind von ihm 
Beiträge erschienen über Ernst Jünger und Hermann Löns (JF 5/05), Léon Bloy (JF 
9/05), Franz Kafka (JF 14/05), Aldous Huxley (JF 18/05), Otto Weininger (JF 
28/05) und Friedrich Nietzsche (JF 10/06).
Außerdem erschienen Beiträge von Harald Harzheim über Maurice Barrès (JF 23/05) 
und den Marquis de Sade (JF 37/05), von Alexander Michajlovskij über 
Dostojewski (JF 33/05), von Wolfgang Saur über Jacob Burckhardt (JF 3/06) und 
Johann Georg Hamann (18/06) sowie von Stefan Scheil über Max Stirner (27/06).

 

Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895–1998) ein großer 
Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses 
Lesens durchziehen sein Werk – von den „Stahlgewittern“ bis zu „Siebzig verweht 
V“: Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten Sie doch zu 
Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also 
„Spuren-Lesen“. Diese JF-Serie versucht einige Fährten aufzunehmen und 
ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers 
Lektüren anregen.

 

In Wilflingen

Neues aus dem Universum der Sekundärliteratur zu Ernst Jünger: Für Ende dieses 
Jahres ist das Erscheinen eines Heftes „Ernst Jünger in Wilflingen“ 
angekündigt. Herausgegeben werden die bibliophilen Hefte mit 32 Seiten und 
Fotos im Duoton-Druck zu Leben und Lebensort bedeutender Menschen von der in 
Berlin ansässigen Edition AB Fischer. Der Einzelpreis beträgt 6 Euro. Internet: 
www.atelierfischer-berlin.de  (JF)

Foto: A. Paul Weber, Ernst und Friedrich Georg Jünger (1935): „... während der 
enge Geist nur den Widerspruch darin erblicken wird“


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Tobias Wimbauer / Wimbauer Buchversand
Waldhof Tiefendorf
Tiefendorfer Str. 66
58093 Hagen-Berchum
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