Liebe Jünger-Freunde,

nachstehender Artikel über Carl Schmitt erscheint morgen in der FAZ.

Tobias Wimbauer
www.waldgaenger.de

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.2004, Nr. 110 / Seite N3

Dunkler Erblasser
Wo der Staat seine Grenzen überschreitet, wartet Carl Schmitt
Es seien vor allem "die sich vom Staatsbegriff lösenden Aspekte seiner 
Schriften, die Carl Schmitt heute interessant machen", schreibt der Freiburger 
Verfassungsrechtler Christoph Schönberger zum ersten Abschnitt von Schmitts 
1932 erschienener Schlüsselschrift "Der Begriff des Politischen" (in: Reinhard 
Mehring Hrsg., Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer 
Kommentar, Akademie Verlag, Berlin 2003). Schmitts Werk, das die Problematik 
des moralisch-humanitären Interventionsvölkerrechts ebenso aufwirft wie die des 
internationalen Terrorismus, biete "in seiner Bundeslehre eine Theorie 
föderaler Systeme an, die nicht mehr auf den Staatsbegriff ausgerichtet ist und 
die unbrauchbaren Dichotomien von Staatenbund und Bundesstaat hinter sich läßt".

Läßt sich am Ende also bei Carl Schmitt nachlesen, was wir über die Auflösung 
des Staatlichen im Supranationalen, über die politische Gestalt Europas schon 
immer wissen wollten? Weiß das Werk des umstrittenen Rechtsdenkers sogar, wie 
Christoph Schönberger vermutet, oft mehr über heutige Problemstellungen, als es 
sagt? Mehr also auch über das komplexe europäische Mehrebenensystem mit seiner, 
so Horst Dreier, "den Nationalstaat transzendierenden Hoheitsgewalt"?

Vielleicht sind selbst Carl Schmitts konzeptionelle Antworten in den Strukturen 
der EU schon längst ebenso gegenwärtig wie ihr Autor selbst in aktuellen 
juristisch-politischen Globalisierungs- und Europäisierungsdebatten. In einem 
kühnen Zugriff hat der in Bremen und Florenz lehrende Rechtswissenschaftler 
Christian Joerges die verschlungenen Einflußlinien der von Schmitt vorgelegten 
Großraumtheorie auf das europäische Integrationsprojekt der Nachkriegszeit 
nachgezeichnet ("Europe a Großraum? Shifting Legal Conceptualisations of the 
Integration Project", in: Christian Joerges/Navraj Singh Ghaleigh, Hrsg., 
Darker Legacies of Law in Europe. The Shadow of National Socialism and Fascism 
over Europe and its Legal Traditions, Hart Publishing, Oxford and Portland, 
Oregon, 2003).

Anfang April 1939, wenige Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag, 
hatte Schmitt bei einer Tagung der "Reichsgruppe Hochschullehrer des 
Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes" in Kiel erstmals sein "echtes, 
Interventionen raumfremder Mächte abwehrendes Großraumprinzip" vorgestellt. Vor 
dem politischen Hintergrund der Installation des "Protektorats Böhmen und 
Mähren" und der Gründung des pseudosouveränen slowakischen Staates erregte das 
Referat die Aufmerksamkeit der in- und ausländischen Presse. Noch im gleichen 
Monat erschien der Text unter dem Titel "Völkerrechtliche Großraumordnung mit 
Interventionsverbot für raumfremde Mächte" im Druck. Beim Entwurf seines 
Raumkonzepts stützte sich Schmitt auf eine eigenwillige Interpretation der 1823 
verkündeten amerikanischen Monroe-Doktrin. Entscheidend war für ihn dabei, wie 
Hasso Hofmann schon 1964 in seiner klassischen Studie "Legitimität gegen 
Legalität" nachgewiesen hat, weniger die von der Monroe-Doktrin implizierte 
geographische Großraumvorstellung, sondern die Verknüpfung der "Vorstellung der 
Raumverteilung mit einer zukunftsträchtigen politischen Idee".

Vom Staat zum Großraum

Das völkerrechtliche Paradigma der Koordination gleichberechtigter souveräner 
Staaten sei hinfällig geworden, so Schmitts These, auszugehen sei nun von 
verschiedenen Großräumen, in denen jeweils ein Reich als politisch führende 
Macht agiert. Bei Schmitts völkisch-radikalen Konkurrenten aus der 
Führungsgruppe des SD, die seinen rasanten Aufstieg in der Hierarchie des 
"Dritten Reiches" schon Ende 1936 jäh beendet hatten, stieß der Reichsbegriff 
als Grundlage eines neuen Völkerrechts auf scharfe Kritik. Schmitt suchte, wie 
Reinhard Mehring hervorhebt, "die gegenwärtigen Machtverhältnisse damit erneut 
als politische Ordnung und Rechtsverhältnis zu fassen" ("Carl Schmitts 
Rechtsbegriff", in: Der Staat, Heft 1, 2004, Duncker & Humblot, Berlin 
2004). Für völkische Propagandisten wie Reinhard Höhn und Werner Best steckte 
in einer solchen Konzeption noch entschieden zuviel Staat. Zwischen den 
Großräumen und ihren "Führungsvölkern", so Best, könne es kein allgemeines 
Völkerrecht mehr geben, sondern lediglich die Regelung von Interessen. Schmitts 
"Großraum" wurde in Bests die deutsche Vernichtungs- und Ausrottungspolitik 
legitimierendem Entwurf zum "Lebensraum", der sich völkerrechtlichen Kategorien 
gänzlich entzieht.<BR><BR>Ihre suggestive Plausibilität gewannen Schmitts 
Ausführungen erst vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten zur 
Großraumwirtschaft. Horst Dreier hat dies unlängst in einer Analyse der 
wechselnden Bedeutungen und Funktionen des Raumbegriffs prägnant 
herausgearbeitet ("Wirtschaftsraum - Großraum - Lebensraum. Facetten eines 
belasteten Begriffs", in: Horst Dreier/Karl Kreuzer/Hans Forkel, Hrsg., Raum 
und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, Duncker &amp; 
Humblot, Berlin 2002). Doch während Schmitt die Auflösung des postwestfälischen 
Staatensystems analytisch auf den Punkt bringt, bleibt sein "Großraum" im 
Innern leer. Anderen - insbesondere dem späteren Doyen des Europarechts, 
Hans-Peter Ipsen, mit seinem 1942 vorgelegten Entwurf einer 
"Reichsaußenverwaltung" - blieb es überlassen, neue Strukturen zu skizzieren, 
die das System souveräner Nationalstaaten ersetzen sollen.

Europa ein Zweckverband?

Zwanzig Jahre später, inmitten der turbulenten Weiterentwicklungen des als 
Antwort auf die katastrophale Erfahrung der Europäer mit Nationalsozialismus 
und Faschismus angelegten europäischen Integrationsprojekts, identifizierte der 
vormals von Schmitt inspirierte Ipsen die drei europäischen Gemeinschaften als 
"Zweckverbände funktionaler Integration" und bot damit in Anknüpfung an Ernst 
Forsthoffs Theorie der Industriegesellschaft ein nachhaltig einflußreiches 
Modell zur Erfassung und Weiterentwicklung des bis dahin beispiellosen 
Konstrukts eines für souveräne Nationalstaaten verbindlichen supranationalen 
wirtschaftsrechtlichen Systems.

In seinen Überlegungen zum "beunruhigenden Erbe" des nationalsozialistischen 
Rechtsdenkens schreibt Christian Joerges: "Das Konzept des ,Zweckverbandes 
öffnete das Gemeinschaftsrecht für Aufgaben, die in einer ordoliberalen Welt 
keinen Platz gehabt hatten - ohne es demokratischen Anforderungen auszusetzen", 
Ordoliberalismus wie Funktionalismus versprachen Antworten auf die 
Legitimationsfrage einer neuen Form supranationalen Regierens. Die Grenzen 
beider Konzeptionen werden, so Joerges, beim Herausarbeiten der "Kontinuitäten 
mit den vordemokratischen Erbschaften des deutschen Rechtsdenkens" deutlicher 
erkennbar. Bei der konstitutionellen Neuordnung der EU müsse man sich indes 
nicht mit diesen ererbten Alternativen zufriedengeben.

Als Mehrebenensystem mit vielfältigen politischen Aktionsebenen ist die heutige 
EU kein zentralisierter Schmittscher "Großraum". Es könnte sich aber lohnen, so 
der in Yale lehrende Politikwissenschaftler John P. McCormick, sich beim 
Nachdenken über die Charakteristika europäischer Identität von Carl Schmitt 
herausfordern zu lassen. In seinem Beitrag in dem von Christian Joerges und 
Navraj Singh Ghaleigh herausgegebenen Sammelband, der die ersten Erträge eines 
seit 1999 am Europäischen Hochschulinstitut etablierten Forschungsprojekts zu 
den Kontinuitäten und Brüchen europäischer Rechtswissenschaft im zwanzigsten 
Jahrhundert vereint, verfolgt McCormick Schmitts Europa-Konzeptionen vom 1923 
veröffentlichten Essay "Römischer Katholizismus als politische Form" über die 
Großraumtheorie von 1939 bis hin zu dem 1950 publizierten Buch "Der Nomos der 
Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum".

Auf letzteres vor allem, das im vergangenen Jahr erstmals in englischer Sprache 
erschienen ist, richtet sich derzeit das Interesse der Wortführer supra-, 
trans- und internationaler juristischer Diskurse. So stellt etwa Robert Howse, 
Professor für Internationales Handelsrecht an der University of Michigan und 
Vordenker "föderaler Visionen", in einem demnächst im "European Journal of 
International Law" erscheinenden Aufsatz Schmitts Konzeptionen den Arbeiten des 
Philosophen Alexander Kojève gegenüber. Die häufig auf sprachliche Barrieren 
zurückzuführende Verengung der Perspektive auf einzelne Schriften und 
Konstrukte des Begriffskünstlers Carl Schmitt verstellt indes zuweilen den 
Blick auf die Komplexität seiner Fragestellungen, die doch wesentlich deren 
anhaltende Aktualität ausmacht.

Einen differenzierenden Blick erfordert auch die Auseinandersetzung mit dem 
"dunklen Erbe" des europäischen Rechts. Hilfreich sein könnte hier, wie Michael 
Stolleis in seinem Vorwort zu Joerges und Ghaleighs Sammelband vorschlägt, eine 
vergleichende Geschichte der europäischen Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte 
des zwanzigsten Jahrhunderts. In einer anspruchsvollen Doppelperspektive 
mikroskopisch auf einzelne Akteure zielend, dabei gleichzeitig Makrostrukturen 
offenlegend, erfordert ein solches Projekt, so Stolleis, wissenschaftliche 
Courage und eine Furchtlosigkeit, die sich nicht von kollegialen 
Marginalisierungen beeindrucken läßt.

ALEXANDRA KEMMERER


Antwort per Email an