literaturkritik.de » Nr. 12, Dezember 2004 » Literaturwissenschaft » Von
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Ernst Jünger: Politik - Mythos - Kunst


"Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau." Mit seinem bekannten
Bonmot aus den Epigrammen zu "Blätter und Steine" (1934) hat Ernst Jünger
die auch unter Autoren beobachtbare Neigung, nicht nur Zeugnis abzulegen bis
zum Letzten, sondern auch das eigene Werk interpretierend zu deuten und
gegebenenfalls zu rechtfertigen, frühzeitig für sich ausgeschlossen. Mit
gutem Grund: Es kann nicht Aufgabe des Autors sein, den Lesern und Deutern
seines Werkes vorzugreifen und ihnen die eigenen Lesarten zu präsentieren,
und es darf seinen Zeitgenossen nicht einfallen, dem Autor bei der
Kommentierung seines ‘uvres den Primat zu geben.

Harro Segeberg, Beiträger des hier zu annoncierenden Buches, hat daher die
beliebte Praxis, Interpretationen mithilfe von Autorentheorien abzustützen,
für die Jünger-Philologie zurückgewiesen - und so wäre generell zu zeigen,
dass der Tagungs-Band "Politik - Mythos - Kunst" nicht von Jünger-Jüngern
erarbeitet wurde, sondern von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, die
sich in kritischer Distanz zum Autor gegen eine "Affektübertragung" (Harald
Weilnböck, Berlin) immunisiert haben.

Das internationale Ernst-Jünger-Symposium im November 2002, vom Herausgeber
initiiert und von der DFG gefördert, führte Jünger-Spezialisten ebenso wie
Wissenschaftler, die sich publizistisch noch nicht als Kenner seines Werkes
ausgewiesen hatten, zusammen, um der Jünger-Forschung neue Impulse zu geben.
Diese Mischung aus Bewährtem und Neuem führte zu dem vergleichsweise
geschlossen wirkenden Ertrag der Tagung.

Michael Ansel (München) widmet sich den "literarischen Karrieren" Gottfried
Benns und Ernst Jüngers, während Helmuth Kiesel (Heidelberg) einen anderen
Vergleichsautor wählt, nämlich Brecht, um am Beispiel von moralischen
Lehrstücken zu zeigen, wie unterschiedlich beide Autoren mit dem
humanistischen Erbe umgehen. Beide Ansätze fügen sich ein in die
Jünger-Forschung der 90er Jahre, die, wie Tom Kindt (Göttingen) und
Hans-Harald Müller (Hamburg) ausführen, unter dem Leitbegriff einer "kalten
Moderne" Jüngers "unheimliche Nachbarschaft" mit avantgardistischen Autoren
der Zwischenkriegszeit entdeckt hat. Wie Kai Köhler (Seoul) ausführt,
reflektierte der Autor sein eigenes Verhalten in der Zwischenkriegszeit und
im 'Dritten Reich' weder umfassend noch konsistent, und noch "Heliopolis"
kann, wie Hans Krah (Passau) ausführt, als
"aporetisch-komplexitätsreduzierende Utopie" erwiesen werden.

Der Fiktionalisierung tradierter Muster widmen sich Volker Mergenthaler
(Tübingen) am Beispiel von Jüngers Erzählung "Afrikanische Spiele" (1936),
Claus-Michael Ort hinsichtlich der Erzählung "Die Eberjagd" (1952 und 1960)
und Danièle Beltran-Vidal (Lyon) mit Blick auf Jüngers Roman "Die Zwille"
(1973), während Helmut Mottel (Dresden) die Selbstbegegnung im eigenen Werk,
wie am Beispiel von Jüngers Nachwort (1980) zu seinem Essay "Die totale
Mobilmachung" (1931), erläutert.

Sieht man von seiner politischen Publizistik ab, die Jünger nicht in seine
Werkausgaben aufnahm, so vollzog der Autor keine demonstrative Abkehr von
seinem kämpferischen Frühwerk, sondern ließ in seinen Mitteln ebenso wie in
seinen Motiven eine erstaunliche Kontinuität erkennen. Ihm stand, wie
Rotraut Fischer (Darmstadt) zeigen kann, immer beides zu Gebote, Feder und
Schwert, wobei es sein Bestreben war, die in der Zwischenkriegszeit und in
der politischen Publizistik gewonnenen Denkfiguren später auf anderen
Feldern zu erproben. Steffen Martus (Berlin) spricht von einer
"Ästhetisierung des Politischen", Gerhart Pickerodt (Marburg) von einer
permanenten "Suchbewegung" der "Annäherungen" (1970), die, wie Ulrich Baron
(Hamburg) bekräftigt, Ausdruck einer Lebenskunst sind, die sich auch
diachron in dieser "Ausnahmebiographie" demonstrieren lässt.

Schwerpunktverschiebungen konstatieren Thomas Gloning (Marburg), der die
Wortschatzentwicklung vom frühen Jünger der "Stahlgewitter" über den
Reisetagebuchautor der 50er Jahre ("Am Sarazenenturm") bis hin zu "Siebzig
verweht" untersucht, um den Verfasser als "Spiegel öffentlicher Themen
seines Jahrhunderts" zu erweisen, Christina Ujma (Loughborough), die den Weg
Jüngers "vom Krieger zum Reisenden" nachzeichnet und Ulrich Fröschle, der am
Beispiel des Konzepts vom "politischen Dichter" zeigt, wie sich Jüngers
frühe Orientierung an einer Schriftstellerexistenz mit einem
"kulturrevolutionären Programm" verknüpfen ließ.

Während der Dichter-Krieger seine tiefe Sympathie für die Romania und den
mediterranen Raum bekundet, bleiben ihm Amerika und die amerikanische Kultur
fremd, wie Sven-Olaf Berggötz (Bonn) darstellt. Bild- und Textspuren in
Kunst und Film verfolgen Lothar Bluhm (Helsinki), Reinhard Wilczek (Essen)
und Rainer Zuch (Marburg). Die von Jünger mit "Stereoskopie" bezeichnete
optische Kodierung von Wahrnehmung findet in Film und Kunst Entsprechungen,
deren Ikonografie auf Jünger zurückgewirkt hat. Wie sehr Jüngers Werk auf
die Bildmedien referiert, führt Karl Prümm (Marburg) in seinem Beitrag über
Jünger als Medientheoretiker aus, sich hier mit Harro Segeberg treffend, der
weniger die Aktualität als die Modernität des Zeitdiagnostikers und
Medientheoretikers Jünger herausarbeitet.

Marianne Wünsch (Kiel) rekonstruiert schließlich anhand von Jüngers "Der
Arbeiter" (1932) das "lebensideologische Denkmodell" der Frühen Moderne,
während Stefanie Arend (Erlangen) für den frühen Jünger einen "integralen
Nationalismus" ebenso wie einen "integralen Ästhetizismus" konstatiert.

L. H. 

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht
die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie
Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch
gesondert vorgestellt werden.
Lutz Hagestedt (Hg.): Ernst Jünger. Politik - Mythos - Kunst.
Walter de Gruyter Verlag, Berlin und New York 2004.
524 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN 3110180936 


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