Ökologie & Landbau 
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02-01-2012 

Mehr Ignoranz geht nicht

Der Nachhaltigkeitsrat empfiehlt der Bundesregierung, den Ökolandbau
deutlich auszuweiten. Doch diese ignoriert ihre eigenen Berater mit einer
Hartnäckigkeit, die kaum zu übertreffen ist. Fehlt den Politikern der Mut
oder ist es wirklich mangelnde Einsicht? 

Von Minou Yussefi-Menzler

Im August 2011 hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) [1] - kurz
Nachhaltigkeitsrat - seine Empfehlung an die Bundesregierung vorgestellt:
"Gold-Standard Ökolandbau: Für eine nachhaltige Gestaltung der Agrarwende".
Darin hat er sich für eine Ausweitung der ökologischen Landwirtschaft von
derzeit sechs auf 20 Prozent der deutschen Anbaufläche entsprechend der
deutschen Nachhaltigkeitsstrategie [2] ausgesprochen. Um dieses Ziel zu
erreichen, müssen nach Ansicht des Nachhaltigkeitsrats Politik,
Landwirtschaft und Forschung ihre gemeinsamen Anstrengungen für den
biologischen Landbau verstärken. Der Ökolandbau müsse daher als Leitbild und
"Gold-Standard" für eine nachhaltige Landwirtschaft etabliert, neue
Marktzugänge geschaffen und ein Aktionsplan ökologischer Landbau auf- und
umgesetzt werden. Das Gremium empfiehlt der Bundesregierung insbesondere
einen massiven Ausbau der Forschungsförderung: Zukünftig sollten 20 Prozent
der Mittel für die Agrarforschung dem Biolandbau zur Verfügung stehen. Das
würde bedeuten, die Ökoforschungsgelder von heute acht auf zirka 80
Millionen Euro jährlich aufzustocken.

Regierung ignoriert ihre eigenen Berater

Die Empfehlungen des Nachhaltigkeitsrats greifen das auf, was viele
Verbände, Wissenschaftler und unabhängige Gremien seit Jahren fordern.
Endlich haben sie Gehör gefunden. Ein politikberatendes Expertengremium hat
den Schneid, den ökologischen Landbau als das darzustellen, was er ist: ein
wichtiger Beitrag zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit, der Artenvielfalt und
zum Gewässerschutz. Der Anteil der Ökoflächen kann sogar als Indikator für
die Nachhaltigkeit der Landbewirtschaftung dienen: Jeder zusätzliche Hektar
Ökolandbau bedeutet weniger Belastung für die Gewässer durch Spritzmittel
und Dünger. Kein anderes Anbausystem schützt wirkungsvoller die natürlichen
Ressourcen.

Und die Regierung? Ignoriert's. Das Agrarministerium sieht keinerlei
Handlungsbedarf, bügelt alle Vorschläge des Nachhaltigkeitsrats ab und auch
die Bundesregierung missachtet seine Empfehlungen komplett! Als Begründung
führt der Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser (CDU) an, dass der
Ökolandbau hinsichtlich seiner Wirkungen beim Klima- und Gewässerschutz
sowie bei der Sicherung der biologischen Vielfalt und der Bodenfruchtbarkeit
keine nennenswerten Vorteile gegenüber dem konventionellen Landbau aufweise.
Wie kann das sein? Mit dieser ungeheuerlichen Ignoranz widerspricht das
Ministerium einschlägigen wissenschaftlichen und politischen Erkenntnissen
der vergangenen Jahre auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene. Und nicht nur das: Die Bundesregierung wirft ihre eigenen Ziele über
Bord. 20 Prozent Ökoanteil wollte schon die ehemalige rot-grüne Regierung
bereits bis 2010 erreicht haben, und bis auf das Zieljahr hielt die Große
Koalition an dem Vorhaben ebenso fest wie jetzt Schwarz-Gelb. In seiner
Stellungnahme drängt der Nachhaltigkeitsrat nun endlich auch darauf, den
Ökoanbau stärker zu fördern - und tut dies sogar im Gleichklang mit dem
Sachverständigenrat für Umweltfragen. Dieser schlägt in seinen "Empfehlungen
zum Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie"
übrigens endlich wieder eine Zeitvorgabe für das 20-Prozent-Ziel vor.
Außerdem soll es mit einem steigenden Anspruchsniveau fortgeschrieben
werden. Und die Regierung? Ignoriert's.

Rückwärtsgewandte Wachstumsideologien

Statt auf Nachhaltigkeit und Zukunft, setzt die Regierung auf
rückwärtsgewandte Wachstumsideologien. Und befindet sich damit im
Widerspruch zum Trend, der sich auf internationaler Ebene abzeichnet.
Diverse namhafte internationale Organisationen haben die Zeichen der Zeit
erkannt: Die Probleme in den Bereichen Umwelt- und Ressourcenschutz,
Nahrungssicherung und Klimawandel drängen und Lösungen müssen jetzt
angegangen werden.

Bereits im Jahr 2008 forderten über 500 Wissenschaftler im Weltagrarbericht
[3], der im Auftrag der Vereinten Nationen und der Weltbank erstellt wurde,
einen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft. Damals war die Resonanz
vieler internationaler Institutionen und der wissenschaftlichen Gemeinde
zunächst verhalten bis ablehnend. Mittlerweile sind die wesentlichen
Botschaften und Fragestellungen des Berichts auf dem besten Wege,
vorherrschende Meinung zu werden.

So hat inzwischen auch die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation
FAO erkannt, dass "Weiter so" keine Option ist. Das Paradigma eines
intensiven Ackerbaus werde den Aufgaben des Jahrhunderts nicht gerecht, so
die FAO [4]. Mit dieser Bewertung beendet sie quasi die Ära des Leitbildes
"industrielle Landwirtschaft" und bestätigt, dass ein Erhalt der Ressourcen
nur mit einem bodenschonenden Anbau, größerer Artenvielfalt und einem
Verzicht auf Anreize für die verschwenderische Nutzung von Düngemitteln
möglich sei.

Auch im Zukunftsbericht "Sustainable food consumption and production in a
resource-constrained world" des Ständigen Ausschusses für Agrarforschung der
Europäischen Union (SCAR) ist die Rede davon, dass die Landwirtschaft von
morgen "robust, widerstandsfähig gegen ökologische und ökonomische Krisen,
lokal und regional ausgerichtet" sein müsse. Die Forschung müsse sich neu,
von unten nach oben und mit viel Raum für ungewöhnliche Ansätze und eine
"radikal veränderte Landwirtschaft" organisieren. Diese programmatischen
Schlussfolgerungen gehen teilweise deutlich über die Formulierungen des
Weltagrarberichts hinaus.

Wann, wenn nicht jetzt?

Warum traut sich unsere Bundesregierung also nicht, diese Forderung
aufzugreifen, einen Schritt weiterzugehen und endlich Nägel mit Köpfen zu
machen? Warum bekennt sie sich nicht zu einer Form der Landbewirtschaftung,
deren Nachhaltigkeit belegt ist? Eine Politik, die dies nicht beachtet, kann
rückwärtsgerichteter nicht sein. Wenn ein Staatssekretär sagt, Ökolandbau
sei im Grunde nur Luxus für Reiche, dann wirkt das angesichts der Tatsachen
geradezu wie ein lächer licher Versuch, vom Ernst der Lage abzulenken. Es
wird die Chance verpasst, konkrete Schritte hin zu einer zukunftsfähigen
Landwirtschaft zu beschreiten. Kann sich Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht
selbst beim Wort nehmen, wenn sie sagt: "Welches andere Land, wenn nicht
Deutschland, kann auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit mutig vorangehen? Wann,
wenn nicht jetzt, wollen wir damit beginnen?" [5] Leider haben weder Angela
Merkel noch ihre politischen Weggefährten den Mut, einen solchen Weg zu
gehen, denn er erfordert, das gesamte existierende System infrage zu
stellen. Und sie beachten nicht, dass zu unseren knappsten Ressourcen
inzwischen womöglich die Zeit gehört. Jene Zeit nämlich, die uns bleibt, um
eine Wende zur wahrhaftigen Nachhaltigkeit zu realisieren. 

ÖKOLOGIE & LANDBAU | 161, 1/2012 

[1] Der RNE berät die Bundesregierung in Fragen der Nachhaltigkeit und soll
helfen, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterzuentwickeln. Er spricht
Empfehlungen aus und benennt konkrete Handlungsfelder. Weitere Informationen
unter www.nachhaltigkeitsrat.de

[2] www.nationale-nachhaltigkeitsstrategie.de

[3] www.weltagrarbericht.de

[4] siehe Leitfaden "Save and Grow: A Policymaker's Guide to the Sustainable
Intensification of Smallholder Crop Production. Abrufbar unter
www.fao.org/docrep/014/i2215e/i2215e00.pdf

[5] auf der Jahrestagung 2011 des RNE in Berlin vor 1400
Konferenzteilnehmern 

--

Minou Yussefi-Menzler
Stiftung Ökologie & Landbau (SÖL)
Weinstraße Süd 51, D-67098 Bad Dürkheim
Tel. +49/6322/98970224
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