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Klimaretter.info - 26.03.2012

"Hier prallen Ideologien aufeinander"

Der Sozialwissenschaftler und Jurist Meinhard Miegel gehört zu den bekanntesten 
Wachstumskritikern in Deutschland. 2010 hat er das Buch "Exit: Wohlstand ohne 
Wachstum" [1] veröffentlicht. Die CDU hat ihn als Sachverständigen in die 
Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität" berufen.

Interview: Eva Mahnke

klimaretter.info: Herr Miegel, die Enquete-Kommission zum Wachstum droht zu 
zerbrechen [2]. Einige Sachverständige der Kommission, etwa der 
Verdi-Gewerkschafter Norbert Reuter, beklagen, dass es immer mehr um Ideologie 
statt um Wahrheitsfindung geht. Stimmen seine Vorwürfe?

Meinhard Miegel: Herr Reuter spricht sicher nicht für die gesamte 
Enquete-Kommission. Diese besteht ja aus fünf Projektgruppen, von denen bisher 
erst drei ihre Arbeit aufgenommen haben. Die Arbeit ist in den Gruppen 2 und 3 
weit gediehen und lediglich in der ersten Gruppe scheint es zu haken. Deshalb 
ist Gruppe 1 auch mehr Zeit eingeräumt worden, um zu einem Ergebnis zu gelangen.

klimaretter.info: Sie haben gut reden: Anders als Norbert Reuter sind Sie in 
der Projektgruppe 2. Er ist in besagter Gruppe 1. Verstehen Sie sein Klagen?

Meinhard Miegel: Durchaus. Die Arbeit in der Projektgruppe 1 ist in der Tat 
besonders schwierig, da hier nicht nur wissenschaftlicher Sachverstand, sondern 
auch Glaubenssätze und Ideologien aufeinanderprallen. Traditionelle 
Wachstumsorientierungen und eher skeptische Sichtweisen stehen einander 
gegenüber.

klimaretter.info: Der Bericht des Club of Rome "Die Grenzen des Wachstums" [3] 
ist mittlerweile 40 Jahre alt. Warum fällt es einigen Enquete-Mitgliedern noch 
immer so schwer, sich vom Wachstumsgedanken zu lösen?

Meinhard Miegel: Weil unsere Gesellschaft seit mehr als 200 Jahren von eben 
diesem Wachstumsgedanken geprägt ist. Wachstum ist über viele Generationen 
hinweg gleichgesetzt worden mit materieller Wohlstandsmehrung und materielle 
Wohlstandsmehrung war wiederum gleichbedeutend mit steigender Lebensqualität 
und selbst Lebensglück. Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität bildeten 
faktisch eine Einheit.

Dass diese Einheit mittlerweile zerbrochen ist, haben viele noch nicht erkannt 
oder sie wollen es nicht wahrhaben. Fakt ist jedoch, dass die 
Lebenszufriedenheit der überwältigenden Mehrheit in Deutschland schon lange 
nicht mehr vom materiellen Wohlstand abhängt und der Wohlstand durch Wachstum - 
wenn überhaupt - nur noch mäßig gemehrt wird. Wahrscheinlich ist sogar, dass 
weiteres Wirtschaftswachstum den Wohlstand mindert, sodass man auch bei einem 
steigenden Bruttoinlandsprodukt...

klimaretter.info: ... der zentralen Maßeinheit für Wachstum ...

Meinhard Miegel: ... kaum noch davon sprechen kann, dass der Wohlstandspfad 
nach oben führt.

klimaretter.info: Streit - das ist das Bild, das der Beobachter von außen 
bekommt. Gibt es eigentlich auch schon Einigkeit?

Meinhard Miegel: In Teilbereichen. Beispielsweise besteht in der 
Enquete-Kommission Übereinstimmung, dass das Wachstum der Wirtschaft kein Ziel, 
sondern nur ein Mittel ist. Das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem 
Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, wo Wachstum ja noch ausdrücklich als 
Ziel gilt. Durch die Behandlung des Wachstums als Mittel hat sich die 
Diskussion deutlich verändert. Denn nun muss die Frage beantwortet werden, 
welchem Ziel dieses Wachstum dient. Die bisherige Antwort lautete: dem 
Wohlstand. Wenn aber das Wachstum den Wohlstand nicht mehr mehrt - und dieser 
Frage muss man nachgehen -, dann steht das Mittel Wachstum infrage.

Das ist genau das Problem. Wachstum würde damit zum Selbstzweck, und wenn man 
genau hinschaut, dreht es sich schon heute im Kreis. Wachstum schafft Wohlstand 
und zugleich zerstört es ihn. Ein wirklicher Fortschritt ist kaum noch 
auszumachen.

klimaretter.info: Sieht man sich die sehr hitzige Sitzung der Kommission vom 
Januar an, bekommt der Beobachter den Eindruck, dass sich einige 
Enquete-Mitglieder nur sehr mühsam auf diesen Konsens eingelassen haben, etwa 
der Sachverständige Karl-Heinz Paqué, Dekan der Fakultät für 
Wirtschaftswissenschaften an der Otto-von-Guericke-Universität.

Meinhard Miegel: Herr Paqué hat, wie alle anderen, die in dieser Sitzung das 
Wort ergriffen haben, erklärt, dass auch für ihn Wachstum nicht Ziel, sondern 
Mittel ist. Mehr kann man nicht erwarten.

klimaretter.info: Die Begriffe "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" tauchen 
schon im Titel der Enquete-Kommission auf. Warum hat es ein ganzes Jahr 
gedauert, sich darauf zu einigen, dass es sich hierbei um drei verschiedene 
Dinge handelt?

Meinhard Miegel: Weil, wie ich eben gesagt habe, Wachstum, Wohlstand und 
Lebensqualität Jahrhunderte lang als Einheit gesehen wurden. Deshalb haben wohl 
auch einige in der Projektgruppe 1 gemeint, mit der Auseinandersetzung über das 
Wachstum seien auch die beiden anderen Themenblöcke abgehandelt. Dass dem nicht 
so ist, dürfte aber mittlerweile Konsens sein.

klimaretter.info: Und die Frage, wie wir in Zukunft mit geringeren 
Wachstumsraten umgehen können, wurde überhaupt noch nicht diskutiert? Fraglich 
ist zum Beispiel, ob sich unsere Sozialversicherungssysteme ohne Wachstum auf 
dem heutigen Niveau halten können.

Meinhard Miegel: Dass der Umgang mit geringeren Wachstumsraten bisher noch 
nicht wirklich diskutiert worden ist, stimmt leider. Dabei besteht hierin 
ausdrücklich der Auftrag des Bundestages an die Enquete-Kommission. Denn ob das 
derzeitige materielle Wohlstandsniveau gehalten werden kann, ist mehr als 
fraglich. Wenn es sinkt, sind die Folgen absehbar. Unter anderem werden dann 
auch die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme abnehmen. Das aber wäre 
nichts wirklich Neues, denn das tun sie schon heute. Die Kaufkraft der Rentner 
ist beispielsweise in den zurückliegenden zehn Jahren um rund ein Zehntel 
zurückgegangen und auch die Leistungen der Krankenversicherung nehmen ständig 
ab. Die Finanzierung von Kuren und vielen Medikamenten, die es vor einigen 
Jahren noch auf Krankenschein gab, ist längst eingestellt.

klimaretter.info: Scheut sich die Enquete-Kommission also davor, Lebensqualität 
neu zu definieren? "Kommt in Zukunft mit weniger aus" ist keine Wahrheit, die 
sich gut verkauft.

Meinhard Miegel: Gut verkaufbar oder nicht. Das wird einfach so kommen. Die 
Kunst der Politik besteht darin, dafür sorgen, dass die Bevölkerung durch eine 
solche Entwicklung nicht frustriert wird und sich möglicherweise von der 
demokratischen Grundordnung abwendet.

klimaretter.info: Ihre Projektgruppe 2 soll Empfehlungen an die Politik geben. 
Welche werden dies sein?

Meinhard Miegel: Wir sind uns einig, dass Wohlstand in Zukunft nicht nur durch 
das Bruttoinlandsprodukt gemessen werden sollte. Wir empfehlen der Politik, 
gleichberechtigt neben das Bruttoinlandsprodukt drei bis fünf weitere 
Indikatoren zu stellen, die Auskunft über die Einkommensverteilung, den 
Umweltzustand und die Staatsverschuldung geben. In Zukunft soll man nicht 
weiter so einseitig auf das BIP schauen.

Im Text verwendete Links:

[1] http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=9783548610313
[2] http://www.klimaretter.info/politik/hintergrund/10752
[3] http://www.hirzel.de/titel/58862.html

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