umwelt aktuell
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Interview: Verkehrspolitik

Mobilität und Klimawandel

Ende August hat der Verkehrsausschuss des EU-Parlaments den Entwurf für den
Verkehrsetat vorgelegt, dem das Plenum noch zustimmen muss. Auch im
Verkehrssektor muss in den kommenden sechs Jahren der CO2-Ausstoß um 20
Prozent gesenkt werden. Das ist eine große Herausforderung, sagt der
Vorsitzende des Verkehrsausschusses Michael Cramer (Grüne)

Interview: Marion Busch, Eric Janacek

umwelt aktuell: Herr Cramer, Sie selbst sind seit 35 Jahren ohne Auto mobil
- für eine wirkliche Verkehrswende reicht das leider nicht. Was muss sich in
der europäischen Verkehrspolitik in der nächsten Legislaturperiode ändern?

Michael Cramer: Mit ohne Auto mobil, das stimmt. Aber ich bin kein Exot,
denn jeder zweite Haushalt in Berlin hat kein Auto und hier kann man zeigen,
dass es auch ohne Auto geht. Mobilität ist ein Wesensmerkmal unserer
Gesellschaft. Wer nicht mobil ist, ist ausgeschlossen - das darf nicht sein.
Leider können sich viele ein Auto und auch den öffentlichen Verkehr nicht
mehr leisten. Beim öffentlichen Verkehr heißt es immer: Das muss sich
rechnen, bei den Straßen geht es nicht darum. Wir brauchen in Europa einen
fairen Wettbewerb. Das ist die Hauptaufgabe, sonst werden wir das Problem
nicht lösen. Unsere Kinder und deren Kinder haben dann auch keine
Perspektive, auf diesem Planeten zu leben. Ohne eine Veränderung der
Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen.

Warum?

Knapp 25 Prozent der CO2-Emissionen in Europa werden durch den Verkehr
verursacht, davon 72 Prozent auf der Straße. Noch schlimmer ist, was sich
seit 1990 verändert hat: Da haben wir in der Industrie eine Senkung der
CO2-Emissionen um 32 Prozent, in den Haushalten um 24 Prozent, im
Energiesektor um 16 Prozent. Im selben Zeitraum sind sie im Verkehr um 28
Prozent gestiegen. Das heißt, der Verkehr frisst all das doppelt und
dreifach auf, was mit Milliarden unserer Steuergelder in den anderen
Sektoren erreicht wurde. Deshalb brauchen wir zumindest einen fairen
Wettbewerb unter den Verkehrsträgern.

Wie sieht der aus?

Wenn ich den umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene mit der Straße
vergleiche, stelle ich fest: Es gibt in Europa eine Schienenmaut, die gilt
für jede Lokomotive auf jedem Kilometer. Bei der Straße ist das eine
freiwillige Angelegenheit der Mitgliedstaaten. In Deutschland gilt sie nur
auf Autobahnen und einigen Bundesstraßen und nur für Lkws ab 12 Tonnen. Das
sind ideale Rahmenbedingungen für die Verlagerung des Verkehrs, aber in die
falsche Richtung.

Wie fällt der Vergleich mit der Luftfahrt aus?

Die Airlines werden vom europäischen Steuerzahler jedes Jahr mit 30
Milliarden subventioniert, weil die Fluggesellschaften von der Kerosinsteuer
und auf Auslandsflügen von der Mehrwertsteuer befreit sind. Die Bahnkunden
müssen das alles bezahlen. Deshalb gab es nach 20 Jahren Bahnreform 15-mal
eine Preiserhöhung in Deutschland. Beim Flugverkehr gingen die Preise immer
runter und der innerdeutsche Flugverkehr ist seit 1994 um 70 Prozent
gestiegen. Dabei schreiben von 23 internationalen Flughäfen 17 rote Zahlen.
Verrückt, aber traurige Realität. Deshalb fordern wir: Entweder alle zahlen
die Mehrwertsteuer oder keiner. Alle zahlen Kerosinsteuer oder keiner. Dafür
setzen wir uns ein. Das heißt in Europa die „Internalisierung der externen
Kosten“ und „Nutzerfinanzierung“. Da sind wir uns alle einig, aber nur
verbal. Wenn es um die Umsetzung geht, dann hörts auf. 

Welche Möglichkeiten haben Sie in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender,
eine nachhaltige, gerechte Mobilität voranzubringen?

Zunächst einmal sagen alle, auch Kanzlerin Merkel und Verkehrsminister
Dobrindt, die Nutzerfinanzierung sei unumstritten. Aber bei der Umsetzung
sieht es anders aus. In der letzten Legislaturperiode waren wir im
Europäischen Parlament sehr eisenbahnfreundlich. Auch wenn man sich die
transeuropäischen Netze anschaut, da spielt der Straßenverkehr eine geringe
Rolle. Die Hauptsache ist der Schienenverkehr, aber bei der Schiene geht es
um die Großprojekte und das kritisiere ich. Denn bei den meisten
europäischen Korridoren werden die EU-Gelder mitgenommen, um nationale
Projekte zu finanzieren.

Zum Beispiel?

Nehmen wir Stuttgart 21: Das ist so verrückt, weil für 10 Milliarden ein
neuer Bahnhof gebaut wird, der halb so leistungsfähig ist wie der
bestehende. Und die Neubaustrecke nach Ulm, die davon drei Milliarden
kostet, wird damit begründet, dass die alte, existierende, über die
Geislinger Steige, so steil ist. Der Korridor Berlin-Bratislava ist aber nur
dann sinnvoll, wenn er für den Güterverkehr geeignet ist. Denn 70 Prozent
der Fahrgäste steigen in Stuttgart ein und aus. Trotzdem werden sinnlos drei
Milliarden für die Neubaustrecke ausgegeben, die noch steiler als die
Geislinger Steige ist. Auf der anderen Seite fehlen zum Beispiel für die
Strecke Berlin-Breslau 100 Millionen, um die Fahrzeit von fünf auf drei
Stunden zu verkürzen. Es gibt ganz viele grenzüberschreitende Abschnitte,
die im Krieg zerstört wurden. Das Eisenbahnnetz in Europa ist ein
Flickenteppich und die Lücken sind genau an den Grenzen. Immerhin wurde in
diesem Jahr die Lücke zwischen Sebnitz in Deutschland und Dolní Poustevna in
Tschechien geschlossen - 660 Meter. Das als Schneckentempo zu bezeichnen,
ist eine Beleidigung der Schnecke, denn die schafft in 25 Jahren mehr als
660 Meter!

Wie schätzen Sie die Mautpläne von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt
ein? Sind die nun mit EU-Recht vereinbar oder nicht?

Das ist die Quadratur des Kreises, weil nur ausländische Autofahrer belastet
werden sollen. Natürlich kommt die Maut so nicht durch, sie ist absolut
europafeindlich. Schon 1992 sind Mautpläne des damaligen
Bundesverkehrsministers Friedrich Zimmermann deshalb von der EU-Kommission
gestoppt worden. Nach wie vor gilt: Die Diskriminierung von Ausländern, auch
die indirekte, ist nicht gestattet. Hinzu kommt: Die Vignette ist nicht
umweltfreundlich, weil Wenigfahrer genauso viel zahlen wie Vielfahrer. Wer
wirklich Geld haben will, sollte die Mineralölsteuer erhöhen. Ohne
Verwaltungskosten bringt ein Cent 400 Millionen im Jahr, fünf Cent wären
zwei Milliarden.

Der Grünen-Politiker Michael Cramer ist Mitglied des Europäischen Parlaments
und seit Juli Vorsitzender des Verkehrsausschusses. Er lebt in Berlin und
Brüssel.




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