TELEPOLIS
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"Nur Laien können Experten kontrollieren"

Der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke über Citizen Science und die Enge des 
etablierten Wissenschaftsbetriebs

Brigitte Zarzer 03.12.2014

Sie sammeln Daten, forschen über Lokalgeschichte, bieten mit fundiertem Wissen 
der Atom-Lobby Paroli oder arbeiten emsig an frei zugänglichen Enzyklopädien 
wie Wikipedia mit: die Laien-WissenschaftlerInnen. Peter Finke, pensionierter 
Professor für Wissenschaftstheorie und Kulturökologie, hat diese 
"Forscher-Szene" in dem Buch "Citizen Science - Das unterschätzte Wissen der 
Laien"[1] analysiert. Im Telepolis-Email-Interview erklärt Finke, warum er 
heute nicht mehr studieren möchte und akademische ebenso wie politische 
Maßstäbe neu justiert werden müssen, um eine echte Wissensgesellschaft zu 
formen.

TELEPOLIS: Herr Professor Finke, Sie sind Wissenschaftstheoretiker und lehrten 
ab 1982 an der Universität Bielefeld. Im Jahr 2006 traten Sie aus Protest gegen 
die Bologna-Reform aus dem regulären Dienst aus. - Was hat Sie damals besonders 
geärgert, was waren Ihre Befürchtungen?

Peter Finke: Die Selbstverständlichkeit, mit der die Politik von der 
Wissenschaft verlangt hat, sie solle europaweit die Universitätsstrukturen so 
umbauen, wie sie es vorschreibt, einheitlich noch dazu: Das fand ich unmöglich, 
frech, unzumutbar. Das ist erstens Fremdbestimmung, passt nicht zu den Lobreden 
auf die Freiheit der Wissenschaft, und zweitens ist es dumm, denn niemand kennt 
die beste Struktur; man muss Vielfalt zulassen und Verschiedenes ausprobieren 
dürfen. Es war also weniger meine Kritik an der Bachelor-Master-Struktur (die 
nur in zweiter Linie), sondern die am Übergriff der Politik auf einen Bereich, 
wo sie nichts zu suchen hat.

Meine Befürchtungen waren: Erstens, wenn die Wissenschaftler das hinnehmen, 
dann machen die Politiker das immer wieder, und zweitens, dass durch die 
Reform, die Verwaltung abbauen und alles international vereinfachen sollte, das 
Gegenteil bewirkt wird. Und so ist es gekommen: Nichts ist dadurch so gewachsen 
wie die Verwaltungsebenen und Evaluierungskommissionen.

TELEPOLIS: Wenn Sie die Entwicklung an den Universitäten beobachten: Was stört 
Sie heute am meisten?

Peter Finke: Am meisten stört mich die Lethargie der Wissenschaftler. Wir haben 
uns früher noch immer gegen das meiste gewehrt, was aus den Ministerien kam. 
Jetzt nimmt man alles meist schulterzuckend hin. Fremdbestimmung pur. Freiheit 
der Wissenschaft? Dass ich nicht lache.

TELEPOLIS: In tendenziell links orientierten Kreisen rund um Theodor W. Adorno 
bemängelte man bereits vor einigen Jahrzehnten, dass sich eine gewisse 
"Produktionslogik"[2] an den deutschen Universitäten breit machen würde. Sind 
Freiräume für Studierende und Lehrende verloren gegangen?

Peter Finke: Aber hallo. Ich möchte heute nicht studieren. Zeit ist das erste, 
was sie den Studierenden gestohlen haben. Ein Hamsterrad der Jagd nach "credit 
points" bewirkt, dass sie alles, was nach Blick über den Tellerrand aussehen 
könnte, schon aus Zeitgründen meiden. Ich habe Seminare über Kreativität und 
Transdisziplinarität angeboten (als Wissenschaftstheoretiker ja wohl erlaubt), 
wurde aber von Kollegen gemobbt, ich würde nicht sorgfältig die Grenzen der 
Fakultät beachten. Kreative Wissenschaft muss immer eine gewisse Subversivität 
zulassen. Aber wir haben ein Aufpassertum unter Wissenschaftlern 
herangezüchtet, wie lachhaft!

KOLLEGEN SIND IN ERSTER LINIE KONKURRENTEN

TELEPOLIS: Selbst in den geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Fächern kann 
heute ein Trend zum "Produzieren von Papieren" beobachtet werden. Inwieweit 
kann man in solch einem Umfeld überhaupt noch echte innovative, kreative - oder 
auch subversive, gesellschaftskritische - Gedanken und Konzepte entwickeln?

Peter Finke: Natürlich kaum. Die meisten jungen Wissenschaftler sitzen auf 
Zeitstellen. Sie müssen an ihre Karriere denken, Quantität geht vor Qualität. 
Subversivität ist gefährlich, also lässt man das gleich. Kollegen sind nicht 
nur Kooperationspartner in Teams, sondern in erster Linie Konkurrenten um die 
immer zu wenigen Stellen.

Dass es in der Wissenschaft nur um die Wahrheit ginge, scheint eine schöne 
Erinnerung an längst vergangene Zeiten zu sein. Es geht um Macht, darum, ein 
Zipfelchen davon abzubekommen. Nur Papiere in bestimmten Journalen zählen, 
anderes ist Zeitverschwendung. Man muss auf Englisch schreiben, Deutsch ist als 
Wissenschaftssprache out. In der TU München sollen ab spätestes 2020 sogar alle 
(!) Lehrveranstaltungen in allen (!) Fächern auf Englisch gehalten werden. Das 
haben dort auch die Sozialwissenschaftler mitbeschlossen. Faktisch ist dies 
schlechtes Englisch. Ob die Wissenschaft dadurch besser wird? Mit Sicherheit 
nicht.

TELEPOLIS: Sie haben sich nach Ihrem Rückzug aus dem universitären Betrieb den 
"Bürgerwissenschaften", der "Citizen Science" verschrieben. Wie würden Sie als 
Wissenschaftstheoretiker dieses Gebiet genau definieren?

Peter Finke: Sie sind im Irrtum. Ich habe mich seit meinem zwanzigsten 
Lebensjahr - also weit länger als in meiner Universitätskarriere - in 
Vereinigungen und Bürgerinitiativen zu geschichtlichen, sozialen und 
naturwissenschaftlichen Fragen engagiert, weil mich alte Häuser, fremde 
Kulturen und Vögel und Frösche interessiert haben. Und wen habe ich dort 
getroffen? Zu meiner eigenen Überraschung? Volksschullehrer, 
Verwaltungsangestellte, Hausfrauen, Ärzte, Richter, Verkäuferinnen, 
hervorragende Regionalhistoriker, Brückenbauer zwischen den Kulturen, Kartierer 
der heimischen Pflanzen- und Tierwelt waren. Sie waren Wissenschaftler, aber 
nicht von Beruf, sondern aus purer Leidenschaft und mit großen, selbst 
erworbenen Fähigkeiten. Zwei bekamen später sogar einen Ehrendoktor.

Die Definition ist ganz einfach: Es ist ehrenamtlich betriebene Forschung, 
nicht Berufswissenschaft auf einer Stelle. Sie findet nicht wie bei jener an 
einer Institution nach deren Bedingungen statt, sondern frei, allein durch 
Interessen und Fähigkeiten der Personen bestimmt.

LEBENSNÄHE ALS PRINZIP

TELEPOLIS: In Ihrem Buch "Citizen Science - Das unterschätzte Wissen der Laien" 
schreiben Sie über "Lebensnähe als Prinzip". Ist diese Lebensnähe der 
traditionellen Wissenschaft abhanden gekommen?

Peter Finke: Natürlich ist die Lebensnähe der akademischen Wissenschaft 
abhanden gekommen, schon deshalb, weil Nähe dort kein Kriterium mehr ist. Wer 
den Fortschritt der Wissenschaft nur in Einzeldisziplinen und auf 
internationaler Ebene sieht, nimmt nicht mehr wahr, dass die penible 
Dokumentation des alltäglichen Wandels um uns herum eine wichtige, aktuelle 
Aufgabe ist. Wer sich nur an abstrakten, komplexen Problemen abarbeitet und nur 
noch mit Profikollegen redet und für diese schreibt, verliert den Blick für die 
Nähe, das was um ihn herum vor sich geht. Lebensnähe ist tatsächlich keine 
Stärke der akademischen Wissenschaft, und das ist ein Mangel.

Ich fordere nicht für alles und jedes Lebensnähe, aber das Bemühen, diese nicht 
völlig zu vergessen, muss jeden Wissenschaftler leiten, auch wenn er noch so 
abstrakte Fragen bearbeitet. Man kann das nicht als belanglos abtun, wie etwas, 
das vielleicht ganz nett wäre, aber meist leider unerfüllbar. Wer sich gar 
nicht mehr darum bemüht, entfernt sich von den Erfahrungen der Menschen auf 
einen fernen Planeten, auf denen er mit seinen Fachkollegen glücklich zu werden 
hofft.

TELEPOLIS: Soweit ich das Ihrem Buch entnehme, gibt es bisher vor allem im 
Bereich der Pflanzenwissenschaften evidente Leistungen der Citizen Science. Wie 
ist das zu erklären?

Peter Finke: Das ist völlig falsch. Richtig ist, dass es im ganzen Bereich des 
naturkundlichen Wissens große Leistungen gibt. Und woran liegt das? Zum Teil 
daran, dass hier Entdeckerfreuden im regionalen Umfeld auch heute noch möglich 
sind, aber auch daran, dass dies angesichts der grassierenden 
Biodiversitätsverluste bruchlos in den Wunsch nach Erhaltung übergehen kann. 
Dann auch daran, dass hier die Profis als erste eingesehen haben, welch große 
Hilfe ihnen die kenntnisreichen Laien sind, denn ohne diese stünden sie auf 
verlorenem Posten da.

Aber es ist auch falsch, nur dies zu sehen. Regionalgeschichtliche Werkstätten 
haben viele Forschungen vor Ort ermöglicht, für die Profihistoriker nie Zeit 
gehabt hätten. Wenn in Berlin eine Straßengemeinschaft beschließt: Wir 
schreiben zusammen ein Buch über die Geschichte unserer interessanten Straße, 
ist das eine großartige Sache. Wenn die AKWs bei uns der Reihe nach 
abgeschaltet werden, ist das auch ein Erfolg der hartnäckigen Aktivisten. Wenn 
die DDR zusammengebrochen ist, haben auch die engagierten Leute in den 
Umweltbibliotheken ihren Anteil daran. Wenn Josef Gens in Köln als Schüler das 
Poblicius-Grabmal ausgegraben hat, ist das ein spektakulärer Erfolg eines 
Hobbyarchäologen. Wenn die Hausfrau Ursula Sladek im Schwarzwald ein eigenes, 
mit Naturkraft betriebenes Stromnetz aufgebaut hat, dafür den deutsche 
Gründerpreis, den deutschen Umweltpreis und das Bundesverdienstkreuz bekommt, 
ist das doch wohl ein Erfolg, der mit "Pflanzenwissenschaften" nichts zu tun 
hat!

TELEPOLIS: Liebhaberei, so erklären Sie, sei eine Triebfeder für 
Forschungstätigkeit außerhalb des etablierten Betriebes. Als zentrales Motiv 
orten sie jedoch das "bürgerschaftliche Engagement". Das heißt, soweit ich Sie 
verstanden habe, dass das Engagement für gesellschaftspolitisch relevante 
Bereiche Laien anspornt, sich selbst in komplizierte Materien zu vertiefen. 
Kann man diese These quantifizieren?

Peter Finke: Nein. Es gibt keine empirischen Untersuchungen, die das zu 
quantifizieren erlauben würden. Es ist eine Erfahrungsaussage aus vierzig 
Jahren eigener Aktivität in solchen Netzwerken und Initiativen. Ich kann sie 
durch viele Einzelaussagen und Biographien belegen, aber nicht quantifizieren. 
Warum gibt es solche Untersuchungen nicht? Weil die ganze Ebene der 
Bürgerwissenschaft bislang angesichts einer Art "Alleinvertretungsanspruchs" 
der Profis für Wissenschaft negiert, übersehen, gering geschätzt wurde und 
weiter wird.

TELEPOLIS: Welches bürgerschaftliche Engagement hat Sie persönlich besonders 
beeindruckt?

Peter Finke: Man kann kaum eines allein herausheben. Der Schweizer 
Volksschullehrer Felix Amiet hat eine sechsbändige Wildbienenfauna der Schweiz 
geschrieben, für die ihm die Uni Bern den Ehrendoktor verlieh. Frau Sladek habe 
ich bereits erwähnt, ihre Leistung ist großartig. Unsere Bielefelder 
Botanikerin Irmgard Sonneborn hat mit fünfzig angefangen, sich einzuarbeiten; 
heute ist sie 92 und noch immer aktiv.

Der Tonmeister Horst Linke hat allein 2008 auf Sumatra acht neue Fischarten 
entdeckt. Der Uhrmacher Guido Reitz hat im Hunsrück viele Sprachen gelernt, 
ihre Grammatik studiert und wurde zu einem Privatgelehrten, dessen Nachlass nun 
in Marburg verwaltet wird. Der Priener Berufsschullehrer Christian Gelleri hat 
den "Chiemgauer" erfunden, eine äußerst erfolgreiche Regionalwährung, die viele 
Nachfolger anderswo gefunden hat. Der Dresdner Landwirt Michael Beleites hat 
schon zu Stasizeiten, weil man ihn nicht studieren ließ, ein Buch "Pechblende" 
über den ungeschützten Uranabbau in der DDR geschrieben; später wurde er zum 
sächsischen Beauftragten für die Stasiunterlagen. Heute hat er schon sein 
viertes Buch (über Evolution) geschrieben; usw. ...

ES GIBT KEINE SCHARFE GRENZLINIE ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND NICHTWISSENSCHAFT

TELEPOLIS: Wie könnte man "Citizen Science" besser in die Wissenschaft 
einbinden?

Peter Finke: In mehreren Schritten. Der erste Schritt wäre, dass die 
akademische Wissenschaft sich gegenüber kenntnisreichen Laien stärker öffnet 
und deren Expertisen nicht als zweit- oder drittrangig anerkennt. Ohne dies 
geht es nicht. Dies ist aber gleichbedeutend damit, dass die in Festreden zu 
hörenden Töne gegen zu viel Bürgereinfluss auf "DIE" Wissenschaft (z.B. der 
Bonner Rektor Fohrmann, der Brandenburger Akademiepräsident Stock) aufhören, 
die besagen: WIR sind die Wissenschaft, IHR seid nur die 
Bürger/Nichtwissenschaftler. Das ist falsch. Es gibt keine scharfe Grenzlinie 
zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, wohl eine Übergangszone.

Zweitens müsste man Foren schaffen und Brücken bauen, wo sich Profis und Laien 
auf Augenhöhe begegnen und miteinander kommunizieren können (also nicht: wo die 
Profis den Laien die Wissenschaft erklären, sondern wo sich im Prinzip auch 
Profis in der "Lernerrolle" wiederfinden können).

Drittens müssten viele Freiheitseinschränkungen der akademischen Wissenschaft 
aktiv abgebaut und flexiblere Strukturen etwa an Universitäten geschaffen 
werden, die nicht Stimmrechte für "gesellschaftliche Gruppen" vorsehen (dazu 
gehören heute in vielen Universitätssenaten nicht nur Umweltverbände, sondern 
z.B. auch politische Parteien (!!!)), sondern schlichte Mitsprachestrukturen, 
wo Laien ihre Interessen, Wünsche und Sorgen artikulieren können.

Aber: Eine völlige "Einbindung" halte ich nicht für wünschenswert. 
Ehrenamtliche Forschung wird und soll immer freier sein als berufliche; sie ist 
auch eine Art wichtiger, dauernder "Stachel im Fleische" der 
Berufswissenschaft, und das ist gut so.

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage nach dem "lieben 
Geld". Wie die jüngsten Aktionen prekär Beschäftigter an Universitäten zeigen, 
arbeiten viele in diesem Bereich zu Konditionen, die kein echtes Auskommen 
(Deckung der Lebenshaltungskosten) gewährleisten.

TELEPOLIS: "BürgerwissenschaftlerInnen" arbeiten überhaupt oft ehrenamtlich, 
also ohne finanzielle Vergütung. Sie greifen die Problematik in einem 
Buchkapitel auf. - Nicht auf Geld angewiesen zu sein, gewährleistet zwar 
Freiheit, wenn man als "Citizen Scientist" aber - salopp formuliert - als 
billiger Daten- oder Wissenszulieferer ge- bzw. missbraucht wird, scheint mir 
das nicht sonderlich fair zu sein. - Sie schreiben, dass man Konzepte 
entwickeln müsste, die "Rechte an den Daten, aber auch ihren monetären Wert 
klarer festlegen und eine Schutzbarriere gegen die Aushöhlung der 
Ehrenamtlichkeit durch unterstellten Allgemeinanspruch und eine vermeintliche 
Kostenlosigkeit errichtet". Sie skizzieren einige Lösungsansätze. Könnten Sie 
einen - ihrer Meinung nach vielversprechenden - Ansatz unseren Lesern näher 
erläutern?

Peter Finke: Die Ehrenamtlichkeit darf nicht angetastet werden. Aber Behörden, 
die auf solche Daten geradezu angewiesen sind (Umweltämter, Sozialämter, 
Kulturbeauftragte, Behörden für Regionalgeschichte etc.) und sie jetzt den 
Bürgerwissenschaftlern abbetteln müssen, müssen in die Lage versetzt werden, 
hierfür angemessene Aufwandsentschädigungen zu zahlen. Bisher haben sie hierfür 
(angeblich?) kein Geld. Das Prinzip "Wer etwas erforscht hat, ist der 
Rechtebesitzer daran" muss uneingeschränkt gelten. Bisher wird moralischer 
Druck ausgeübt nach dem Motto "Ist doch ehrenamtlich, was du da gemacht hast, 
also offenbar kostenlos, also her mit den Daten!" Weiterbildung muss gefördert 
werden. Vereinspublikationen können heute oft nicht mehr regelmäßig erscheinen, 
weil sie zu teuer geworden sind. Das muss gefördert werden. Besonders 
herausragende Leistungen (auch bestimmter Gruppen: Schüler, mutige Forschung 
gegen Lobbygruppen, originelle Fragestellungen etc.) sollten mit Preisen geehrt 
werden.

TELEPOLIS: Sie veranschlagen für Deutschland einen Förderbedarf von 50 bis 80 
Millionen Euro, um schwerpunktmäßig "Citizen Science" anzuschieben. Welche 
"sinnvollen Projekte" sollten damit schwerpunktmäßig gefördert werden?

Peter Finke: Es geht nicht um einzelne Disziplinen, sondern um 
Wissenszusammenhänge. - Teilweise habe ich oben Beispiele genannt. - Was 
sinnvoll ist und was nicht, müssen die Bürger selbst mitentscheiden dürfen. 
Sicher ist insbesondere alles sinnvoll, was versucht, drohende natürliche oder 
kulturelle Verluste rechtzeitig zu dokumentieren und durch Gegenstrategien 
aufzuhalten. Was attraktive Alternativen des Verhaltens eröffnet. Was 
Geldverschwendung vorzubeugen versucht. Was Freiheiten des Verhaltens sichert, 
statt sie einzuschränken. Allein die unvoreingenommene Bestandsaufnahme (Was 
gibt es auf diesem Gebiet eigentlich bei uns? Wo gibt es das? Welche Risiken 
sind gegeben, dass die guten Ansätze verschwinden, wenn man nichts tut?) würde 
vieles ans Licht bringen können, was erhaltenswert und vorbildhaft ist.

Die Idee, die leider heute vorherrscht: "Wir müssen Citizen-Science-Projekte 
schaffen, entwickeln, aktiv durch Geld fördern", die ist falsch. Man muss 
unvoreingenommen erheben, wo es selbstorganisierte Forschung, Initiativen, 
Ansätze gibt und warum und wodurch könnten sie gefährdet sein. Und wenn man 
dies getan hat, braucht man eigentlich nur auf eine Selbstentwicklung zu 
setzen. Wenn die Rahmenbedingungen hierfür gesichert und verbessert werden, 
wird sich diese einstellen.

Wie müssten die Mittel konkret eingesetzt werden, sodass auch tatsächlich 
"Bürger-Wissenschaft" entsteht. Welche Strukturen sind dafür notwendig?

Peter Finke: Vor allem müssen aus einem Topf für Bürgerwissenschaft Laien und 
Amateure gefördert werden und nicht in erster Linie Profis; genau das aber 
geschieht gegenwärtig. Man muss den Akzent auf das legen, was ich Citizen 
Science proper nenne, und nicht auf Citizen Science light. Wir brauchen weniger 
neue Strukturen als ein neues Denken. Das Elfenbeinturmdenken beherrscht bisher 
den ganzen Blätterwald. Aber nochmal: Es geht weniger darum, Bürgerwissenschaft 
aktiv zu fördern, als vielmehr die behindernden Rahmenbedingungen für ihre 
Selbstentwicklung zu minimieren. Beispielsweise durch Weiterbildung von 
Wissenschaftsjournalisten, damit diese nicht nur als Reporter der jeweiligen 
Akademischen Marktlage tätig werden, sondern als kritische Begleiter der 
gesamten Wissenschaftslandschaft.

CITIZEN SCIENCE IST "DIREKTE DEMOKRATIE IN DER WISSENSCHAFT"

TELEPOLIS: Wissensgesellschaft ist mit dem Begriff Freiheit verknüpft. Was 
würde eine souveräne Integration von "Citizen Science" an Freiheit für die 
Gesellschaft bringen?

Peter Finke: Citizen Science ist Wissenschaft, die noch wirklich frei ist. Wer 
diese wirklich ernst nimmt und nicht als zweitrangig versteckt, schafft eine 
Herausforderung für die Profis, sich ihrer heutigen Unfreiheit bewusst zu 
werden und sich genauer zu überlegen, wessen Geld man annimmt, wessen Aufträge 
man ausführt und von sich aus zu wünschen, dass manches Hochschulgesetz 
novelliert wird. Bisher geht dies fast ausschließlich von der Politik aus mit 
dem Ergebnis, dass die Wissenschaftsfreiheit noch weiter eingeschränkt wird (s. 
NRW).

Aber das wichtigste Resultat für die Gesellschaft bestünde in einer Stärkung 
der Demokratie. Bürger als gleichberechtigte Gesprächspartner der Experten 
anzuerkennen, ist der erste, notwendige Schritt, die Fahrt in die Expertokratie 
zu bremsen. Nur Laien können Experten kontrollieren; dies ist die wichtigste 
Funktion von Citizen Science. Die Gesellschaft hat davon einen ungeheuren 
Gewinn: Es ist der Abbau von Privilegien einzelner Gruppen, die sich ihre 
Angelegenheiten nicht hineinreden lassen wollen. Ich stimme Popper zu, dass die 
wahren Feinde einer offenen Gesellschaft diejenigen sind, die in einer offenen 
Gesellschaft (= einer Demokratie) "geschlossene Gesellschaft" spielen wollen. 
Das geht nicht; es ist der Anfang vom Ende einer Demokratie, wenn man das 
zulässt. Citizen Science ist ein Modell einer konsequenten Demokratie in der 
Wissenschaft; oder, wie der Schweizer Journalist Adolf Reichwarth gesagt hat, 
sie ist "direkte Demokratie in der Wissenschaft". Das ist ein ungeheuer starkes 
Modell, das die Gesamtgesellschaft nicht kalt lassen kann.

TELEPOLIS: Wäre die Etablierung von Bürgerwissenschaft Ihrer Meinung nach auch 
ein Schritt in Richtung freiheitlich verfasster Bürgergesellschaft?

Peter Finke: Natürlich. Aber noch einmal: Es geht nicht um die "Etablierung der 
Bürgerwissenschaft". Es geht um ihre Wahrnehmung und ihre Respektierung als 
legitimer, wichtiger Basisbereich der Wissenschaft. Es gibt sie, wir brauchen 
sie nicht zu schaffen. Insofern ist das Bild, das der Gesprächsleiter der 
Citizen-Science-Gespräche im BMBF benutzt hat, an denen ich anfangs 
teilgenommen habe, es ginge ihnen um eine Art "Geburtshilfe" in Deutschland, 
schlicht falsch. Die Kinder sind längst auf der Welt, man hat sie nur bisher 
nicht bemerkt und ihnen die Aufmerksamkeit gezollt, die sie verdienen, wenn sie 
sich gut entwickeln sollen. Man verwechselt den neuen Begriff ("Citizen 
Science") mit einer angeblich neuen Sache. Aber die Sache ist nur in 
Teilaspekten neu (Internet). Im Wesentlichen ist sie alt. Es gibt das 
Gewünschte mindestens seit gut zweihundert Jahren. Man muss nur der Aufklärung 
einen neuen Schub verleihen wollen. Daran scheint es zu hapern.

Links

[1] http://www.oekom.de/buecher/sachbuch/buch/citizen-science.html
[2] http://www.youtube.com/watch?v=OMrtcGBFdMA




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