Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
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19.05.2018

Bruno Latour im Interview: Wir sind alle wie Trump

Der französische Soziologe Bruno Latour war schon immer gut darin, scheinbar
unvereinbare Dinge zusammenzubringen: Ein Gespräch über Klimawandel, Heimat
und Globalisierung - und ein neues politisches Denken

VON HARALD STAUN

Vor 40 Jahren zeigte er, dass sich naturwissenschaftliche Forschung nicht
von ihrem gesellschaftlichen Kontext trennen lässt; 1991 beschrieb er in
seinem Buch „Wir sind nie modern gewesen“, wie illusorisch die
Unterscheidung von Mensch und Natur ist, die dem Glauben an den Fortschritt
zugrunde liegt, und forderte ein „Parlament der Dinge“. Und heute, da sich
leider kaum noch übersehen lässt, wie der Mensch die Natur beeinflusst und
die Umweltbedingungen das Schicksal der Menschen prägen, ist sein hybrides
Denken so zeitgemäß wie nie. Davon zeugen auch die vielen Besucher, die Ende
vergangener Woche seinen Vortrag im Berliner Haus der Kulturen der Welt
hören wollten. Am Tag danach steht er fürs Interview bereit. Die Sonne
scheint, die Luft ist klar, die Vögel zwitschern. „Es ist, als würde nichts
passieren“, sagt Latour.

HARALD STAUN: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Phänomen des
Klimawandels. Für Sie ist der Klimawandel nicht nur eine ökologische Frage,
sondern die Ursache für viele andere politische Probleme, etwa für Migration
und Ungleichheit. Wie hängt das zusammen?

BRUNO LATOUR: Der Beginn der Politik der Deregulierung, die Margaret
Thatcher und Ronald Reagan im großen Stil vorangetrieben haben, fällt mit
der wissenschaftlichen Entdeckung des Klimawandels zusammen. Meine eigene,
etwas eigensinnige Interpretation ist, dass einige Leute bemerkt haben, dass
die Transformation des Klimas gravierend ist, und sich entschieden haben,
vor den Konsequenzen zu fliehen, statt etwas dagegen zu tun. Etwa ab 1995
wurde die Frage des Klimas zur politischen Trennlinie. Ab dieser Zeit endet
die parteiübergreifende Gesetzgebung beim Thema Klimawandel; und diejenigen,
die sich dem Problem nicht stellen wollen, beginnen, es zu leugnen. Auch
diese Leute haben gemerkt, dass der Klimawandel wichtig ist, aber sie
behaupten, er existiert nicht. Das ist absurd, aber es ist eine
verständliche Reaktion auf die ökologische Krise. Der bisherige Höhepunkt
dieser Haltung war Donald Trumps Rückzug aus dem Übereinkommen von Paris im
vergangenen Jahr. Damit sagte er explizit: Wir teilen nicht das Schicksal
einer Welt, in der der Klimawandel passiert.

Sie sprechen von einer Politik der „Eliten“ und der „führenden Klassen“. Das
klingt fast wie eine Verschwörungstheorie. Es ist überraschend, so etwas von
dem Mann zu hören, der für die Akteur-Netzwerk-Theorie bekannt ist, der so
etwas wie ein autonom handelndes Subjekt eigentlich fremd ist.

Es ist eine Dramatisierung eines anderen Problems, nämlich der Frage, was
die Leute mit all den Nachrichten über den Zustand unseres Planeten
anfangen. Seit dreißig Jahren schreiben Wissenschaftler über den
Klimawandel, und das wird jeden Tag noch intensiver. Das kann man nicht
ignorieren. Man kann sich nur der Realität verweigern. Deshalb hat Trump
sein ganzes Umweltministerium um die Leugnung des Klimawandels herum
organisiert und die Mittel für Wissenschaftler gekürzt. Es geht nicht
einfach um eine Frage der Ökologie, sondern um die Kernthemen der Politik.
Wir nehmen nur einen Teil der Probleme wahr, etwa die Migration, die meiner
Ansicht nach nur ein Stellvertreterproblem ist.

Steht Trumps erratische Politik wirklich für eine allgemeine Tendenz?
Glauben Sie, dass seine Politik gegen die Kräfte der Globalisierung viel
ausrichten kann?

Es ist auf jeden Fall ein einzigartiges Ereignis. Auch wenn es keine Folgen
haben wird: In zwei Jahren wird es hoffentlich einen anderen Präsidenten
geben, aber es dauert vier Jahre, bis man aus dem Übereinkommen rauskommt.
Trotzdem ist es, auf rechtlicher, diplomatischer und geopolitischer Ebene,
die explizite Erklärung, dass die Vereinigten Staaten die Sorgen der
restlichen Welt nicht teilen. Ich nehme das sehr ernst.

Aber ist diese explizite Ignoranz nicht nur ein kleiner Teil des Problems?
Auch Menschen, die den Klimawandel nicht leugnen, machen sich ja in der
Regel nicht klar, was er bedeutet. Sie diagnostizieren in Ihrem Buch, dass
es eine allgemeine Panik gebe, weil alle merkten, wie ihnen „der Boden unter
den Füßen weggezogen“ wird. Ich kann nicht viel von dieser Panik sehen. Eher
eine kollektive Gleichgültigkeit, nach dem Motto: „Sind doch nur ein paar
Grad mehr.“

Ja, sicher, es gibt eine allgemeine Heuchelei. Tatsächlich sind wir alle wie
Trump, weil wir nicht wissen, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir es in
einer Dimension verändern würden, die der angekündigten Katastrophe
entspräche. Insofern müssen wir Trump, wenn man das so sagen darf, dankbar
sein, dass er explizit gemacht hat, worum es geht: Nicht nur um einen Streit
auf dem geopolitischen Spielfeld, sondern um einen Streit darüber, woraus
das Schachbrett überhaupt gemacht ist. Das ist eine kosmologische
Meinungsverschiedenheit. Das ist eigentlich mein zentraler Punkt: Wir müssen
aufhören, von einem ökologischen Problem zu sprechen. Die Ökologie ist eine
Kategorie für Dinge, die sehr weit weg sind. Nein, es geht um existentielle
territoriale Fragen! Um Leben und Tod, um Identität und Boden, ums
Überleben. All diese traditionellen Fragen sind zurück.

Wenn es stimmt, dass wir alle eine gewisse Panik vor dem Klimawandel teilen:
Warum konnten grüne Parteien von dem Bewusstsein für diese Bedrohung so
wenig profitieren?

Parteipolitik ist nicht der richtige Weg, um das Problem in den Griff zu
kriegen, weil auch sie auf dem falschen Gegensatz von Global und Lokal
aufbaut. Die Frage ist: Brauchen wir überhaupt Parteien? Oder brauchen wir
etwas anderes? Ich denke, wir brauchen eine neue Beschreibung unserer
Situation, unserer Zugehörigkeit. Wir haben überhaupt keine Ahnung davon,
worüber sich die Leute Sorgen machen. Es war die dumme Reaktion einer Elite
nach dem Wahlsieg Trumps, zu sagen, wir müssen diesen armen Menschen besser
zuhören. Das ist lächerlich. Wir wissen gar nicht, was deren Sorgen sind.
Die Leute haben keine Ahnung, woraus die Welt gemacht ist oder was ihre
Interessen sind.

Sie haben vor vierzig Jahren in Ihrem Buch „Laboratory Life“ die Idee der
reinen Objektivität der Wissenschaft in Frage gestellt. Haben Sie damit die
Waffen entwickelt, die die Leugner des Klimawandels heute benutzen?

Nein, sie zweifeln ja nicht an der Wissenschaft. Sie haben ein völlig
positivistisches Bild der Wissenschaft. Sie sagen einfach: Wir haben recht.

Aber nicht alle leugnen, dass es den Klimawandel gibt. Manche behaupten nur,
dass er nicht von den Menschen verursacht wurde. Ist das nicht eine Form von
Relativismus?

Aber innerhalb der Wissenschaft gibt es darüber überhaupt keinen Streit. Es
gibt natürlich Leute, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die Menschen
dazu fähig sind, solche Dinge zu tun. Ich kann das auf gewisse Weise sogar
nachvollziehen: Ich will auch nicht in einer Welt leben, in der die Menschen
in der Lage sind, solche Katastrophen zu produzieren. Das ist ja eigentlich
auch unbegreifbar: Wir sind so klein, der Kosmos ist so gigantisch.

Sie schlagen eine Neuausrichtung der Politik jenseits der Gegensätze von
global und lokal vor. Sie nennen das Konzept „das Terrestrische“. Was genau
verstehen Sie unter „terrestrisch“? Ist das etwas zwischen global und lokal?

Nein, es liegt nicht dazwischen. Das Dazwischen wäre eine seltsame Position.
Das Dazwischen ist das, was naive Ökologen immer vertraten. Sie wollten
immer gleichzeitig links und rechts sein, progressiv und regressiv. Es ist
ihnen nie gelungen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Nein, das
Terrestrische ist das, was man auch mit dem Begriff „Gaia“ bezeichnet: ein
Zusammenwirken komplett verschiedener Einheiten, ein Zusammenleben
miteinander verflochtener Lebensformen. Es stellt die komplette politische
Ordnung so infrage, wie Galilei im 17. Jahrhundert die Ordnung der Kirche
infrage stellte. Es ist eine kopernikanische Revolution.

Das Bild von „Gaia“, benannt nach der Göttin der Erde aus der griechischen
Mythologie, wurde in den sechziger Jahren von den Naturwissenschaftlern
James Lovelock und Lynn Margulis eingeführt. Deren These ist, dass man den
Menschen und die anderen Lebewesen nicht von der Umwelt unterscheiden
sollte, sondern dass sie beide zusammen ein eigenes System bilden, das
selbst wie ein Lebewesen betrachtet werden kann. Für viele klingt das
esoterisch.

Das ist aber ein komplett falscher Eindruck. Lovelock ist ein absolut
positivistischer Chemiker. Seine Beschreibung war eine wissenschaftliche
Revolution. Sie hat den Maßstab deutlich gemacht, in dem sich Lebensformen
mischen, verändern, ihre Grenzen überschreiten. So wie die Erde vor ein paar
Milliarden Jahren aussah, konnte man noch nicht von Gaia sprechen; da gab es
nur Biofilm, ein paar Schleimschichten auf ein paar Steinen, die keinen
Einfluss auf den Rest des Planeten hatten. Gaia ist eine historische Figur.
Diese ist viel interessanter als der esoterische Aspekt, der von der grünen
Bewegung populär gemacht wurde. Ursprünglich hat die Idee nichts von der
Metapher der Erde als einer Ganzheit. Sie ist eben genau kein Ganzes,
sondern ein wissenschaftlich sehr aufregendes System.

Das Terrestrische, sagen Sie, hat nichts mit dem Lokalen zu tun. Trotzdem
betonen Sie, wie wichtig es angesichts der fatalen Konsequenzen der
Globalisierung ist, die Verbundenheit mit Grund und Boden zu erhalten, die
Idee der Heimat, die traditionellen Lebensweisen. Wie unterscheidet sich das
von reaktionären Positionen?

Sind das reaktionäre Positionen? Oder sind sie ein Symptom des Verlusts von
Territorium, das wir ernst nehmen müssen? Das Terrestrische will nicht
zurück zu einer Blut-und-Boden-Ideologie. Die Alternativen, die die
konservativen Bewegungen heute anbieten, wenn sie von Identität oder von
Mauern sprechen, sind ein Mythos. Aber kein größerer Mythos als die
Ideologie der Globalisierung, die Vorstellung, dass wir alle Unterschiede
auslöschen können und am Ende alle eine große Masse werden. Wenn sich
Menschen nach solchen Mythen sehnen, dann liegt das daran, dass es kein
anderes Angebot gibt. Die Alternativen sind nicht die Abstraktion des
Globalen, die der Neoliberalismus anbietet, einerseits, und ein lokales
Leben, wie es sich die AfD vorstellt. Der Trick ist zu sagen: Lasst uns ein
Wort wie „Heimat“ wieder verwenden. Europa als Heimat. „Heimat“ muss
gerettet werden. Ja, das sind Konzepte der Reaktionären. Aber warum lassen
wir zu, dass sie reaktionär sind? Vor allem dürfen wir uns nicht einreden
lassen, dass die Begriffe, die von der Neuen Rechten wiederbelebt werden,
konkret sind. Nichts ist weniger konkret als „Make America great again“. Das
ist der Grund, warum die Menschen die Orientierung verloren haben: Sie leben
zwischen zwei kompletten Abstraktionen.

Ich verstehe Ihre Kritik an der Praxis der Globalisierung. Aber warum
kämpfen Sie so heftig gegen die Ideale der Moderne? Warum haben Sie den
Glauben an den Fortschritt verloren?

Weil es dafür keine Erde gibt. Ich bin ein Baby-Boomer. Wir wollten alle wie
die Amerikaner leben. Aber dafür brauchen wir eine Erde. Und es gibt keine
Erde. Die Globalisierung hat sich von einer positiven zu einer negativen
Kraft gewandelt. Als ich jung war, herrschte die Vorstellung, dass die
Globalisierung unseren Blick auf die Welt vergrößert; heute verringert sie
unsere Möglichkeiten. Wenn Sie mich aufschneiden, finden Sie wahrscheinlich
das Herz eines Modernisten. Und es geht mir auch noch immer darum, dass wir
uns nach vorne bewegen. Aber der Fortschritt muss heute in Richtung des
Terrestrischen gehen. Dazu müssen wir eine ganze Reihe von Neubeschreibungen
einführen, zum Beispiel, wie sich der Boden genau zusammensetzt. Das gäbe
den progressiven Bewegungen die Gelegenheit, zu überdenken, was sie mit
Modernität überhaupt meinen, konkret zu werden. Man hat uns nie gesagt, was
es in einem praktischen Sinne heißt, modern zu sein.

Ich nehme an, Sie halten auch nicht viel von den hypermodernen Ansätzen, auf
die ökologischen Probleme zu reagieren. Die Idee, den Mars zu
kolonialisieren, wie sie beispielsweise Elon Musk repräsentiert, hat ja
nichts mit der rückwärtsgewandten Politik Trumps zu tun. Was denken Sie über
solche Formen des Eskapismus?

Mich interessiert so ein Hyper-Postmodernismus nicht besonders. Das ist eine
zu extreme Form des Futurismus für sehr wenige sehr reiche Leute. Musk kann
nicht neun Milliarden Menschen auf den Mars fliegen.

Wenn Sie vom „Boden“ sprechen, sprechen Sie weniger von einer nostalgischen,
rustikalen Idee; sondern von der Materie, den Schichten, in denen Sie vor
allem Heterogenität und Komplexität finden.

Das Thema Boden ist wissenschaftlich sehr interessant. Es wurde lange völlig
vernachlässigt, heute ist es zurück. Jeder Zentimeter ist unterschiedlich.
Es dauert Tausende Jahre, bis sich der Boden bildet. Zurzeit wird er massiv
zerstört. Das ist eine sehr ernste, aber sehr wenig verstandene Bedrohung.

Sie kommen aus einer Familie von Winzern, die Latours bauen seit
Generationen Burgunder an. Hat das Ihr Interesse für den Boden geprägt?

Nein, ich tat ja alles, um dieser Tradition zu entkommen. Aber dadurch wurde
mir das existentielle Ausmaß der ökologischen Bedrohung schon früh klar. Bei
dem jährlichen Treffen unseres Familienunternehmens redeten die
Verantwortlichen für den Weinanbau schon Ende der neunziger Jahre über die
Frage, welchen Einfluss das Verschwinden des Golfstroms für den Wein in der
Bourgogne hätte. Aber die meisten Firmen interessieren sich nicht für diese
Zusammenhänge: Sie versuchen sich anzupassen, aber sie kümmern sich keine
Minute lang um Ökologie.

Gilt das auch für die globalen Großunternehmen? Sie könnten doch am Ende
sogar davon profitieren, wenn sie den Klimawandel bei ihren Kalkulationen
berücksichtigen?

Nein, vielleicht die Versicherungen. Die meisten koppeln das völlig ab. Aber
ich denke, das kann sich schnell ändern. Eines Morgens werden die Leute
aufstehen und erkennen, dass es ein neues Paradigma gibt. Wir brauchen eine
Revolution. Aber es ist nicht so schwierig! Es gibt Leute, die sagen, wir
könnten innerhalb von zwei Jahren auf eine kohlendioxidfreie
Energieversorgung umstellen. Schauen Sie sich doch an, was wir in vier
Jahren Krieg hinbekommen haben: In beiden Weltkriegen haben wir es
geschafft, eine ganze Industrie auf die Beine zu stellen.

Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“. Suhrkamp, 136 Seiten, 14 Euro




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