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Posted on: Friday, June 1, 2018 11:11 AM

Author: Frank Jödicke (maga...@skug.at)

Subject: Marx macht nicht mobil

 

Zum 200. Geburtstag von Marx muss konstatiert werden, wie wenig Wirkung
seine luzide Beschreibung der Probleme erzielt hat 

 

Die Aktualität von Karl Marx ist leicht zu belegen. Er konnte gemeinsam mit
Friedrich Engels bereits im 19. Jahrhundert jene Kräfte beschreiben, die das
heutige Leben prägen: Vereinzelung, Paranoia und Fetisch. Diese drei
Fehlentwicklungen dürfen als die Hauptmotoren industrialisierter
Gesellschaften bezeichnet werden.

 

Bemerkenswerterweise konnte Marx diese Einsichten gerade auch auf einer
psychologischen Ebene sehr gut erfassen, die gar nicht so viel mit den
ökonomischen Sachverhalten zu tun hat, die auch Marx persönlich als recht
ermüdend empfand. Deswegen erweist sich Marx heute als ein profunder
Diagnostiker unseres Alltagslebens und der Populärkultur.

 

Wie konnte ihm dies Jahrhunderte zuvor gelingen? Dass Marx kein Prophet war,
hat die Geschichte eindrucksvoll bewiesen. Seine Vorhersagen wurden
widerlegt. Die Arbeiterklasse verwandelte sich nicht in ein revolutionäres
Subjekt und kam somit auch nicht in die Verlegenheit die kapitalistische
Bourgeoisie als erbarmungslose Herrscherin abzulösen. Die Profiteure des
Kapitalismus erwiesen sich schlicht als schlauer und die von ihnen
errichteten Strukturen als flexibler, als es Marx und Engels vorhersahen.

 

Klassenkonflikte werden umdeklariert zu Rassenkonflikten, Revolutionen
mussten scheitern, weil der Prozess des Revoltierens in banalisierter Form
vom Kapitalismus instrumentalisiert wird und die Bourgeoisie grub nicht ihr
eigenes Grab, sondern verzichtete kurzerhand auf viele Aspekte des Lebens,
wohl aus blanker Angst, bei allfälligen Änderungen ins Hintertreffen zu
geraten. So viel Muff haben Marx und Engels wohl nicht wahrhaben wollen.

 

Eingewöhnung ins Maschinendasein

 

Dabei kann diese Bereitschaft zum Lebensverzicht sehr profund aus der
Marxschen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftens belegt werden.
Unterwerfen wir uns nämlich einer fortwährenden "Revolutionierung" der
Produktion, dann löst dies ununterbrochen die bestehenden sozialen
Strukturen auf.

 

Die heutige Politik fordert kaum noch etwas anderes als größtmögliche
Leistungsbereitschaft und die damit einhergehende Anpassung. Der hiermit
einhergehende Lustverzicht wird kaum thematisiert (Leistung macht keine
Freude, sie ist das Maschinenkriterium der "Arbeit auf Zeit") und die
praktischen Nöte erscheinen nur am Rande. Auch deswegen haben wir zwar
"soziale Netze", aber kaum mehr Beziehungen.

 

Ein kleiner Apparat in der Hosentasche teilt unablässig den Usern seine
Forderungen mit, die zwecks Simulation gesellschaftlicher Teilhabe sklavisch
erfüllt werden müssen. Diese Apparate (Smartphones oder sonstige handheld
devices) hat es vor kaum zehn Jahren noch nicht gegeben. Nachdem die
Menschheit in sechs Jahrzehnten nicht den (suchtfreien) Umgang mit dem
Fernseher gelernt hat, sind die beinahe stündlichen Neuerungen der sozialen
Medien und Smartphones als ein soziales Diktat zu begreifen.

 

Permanente Anpassung wirkt schwerelos und vollzieht sich mit
Datenübertragungsgeschwindigkeit. Widersprochen wird kaum. Marx deutete die
böse Pointe bereits in seinem "Kapital" an: Nicht die Roboter werden die
Arbeit machen, sondern die Arbeiter werden sich in Roboter verwandeln.

 

Die Folgen für die Arbeitswelt sind grausam. Ständige Leistungsüberwachung
im Amazon-Lager, oder bei den entrechteten Dienern der Zustelldienste ist
die Folge. Gerade dieses Arbeitsheer ermöglicht den Endverbrauchern in immer
vollständigerer Isolation zu leben. Es braucht enorme Phantasie um sich
vorzustellen, wie die so geknechteten und entrechteten Proletarier sich
zusammenschließen könnten und aufbegehren.

 

Die Bourgeoisie hat kein anderes Band zwischen den Menschen gelassen als das
nackte Interesse, lesen wir im kommunistischen Manifest, nichts mehr als die
gefühllose "bare Zahlung". Und richtig, jedes Datenhäuflein auf Facebook
wird mit Geld aufgewogen. Die Frage: "Was bringt mir dies?" kann sekündlich
beantwortet werden und das Ziel der Urlaubsreise sind möglichst viele
"Likes" für den fotografierten Sonnenuntergang.

 

Ein zweiter Aspekt hängt hiermit eng zusammen. Die Maschinen sind in ihrem
Kern Instrumente der Überwachung. Nachdem einerseits die Zinswirtschaft uns
tief den Keim des Misstrauens in die Herzen pflanzte, wie Marx es
ausdrückte, und da andererseits zum Erreichen des Kredits die ganze
Moralität eines Menschen in die Waagschale geworfen werden muss, erwarten
viele insgeheim nur mehr den Betrug von ihren Mitmenschen. Und haben damit
leider nicht immer unrecht.

 

Wirtschaftlicher Erfolg ist eng an ein exklusives Wissen geknüpft.
Kenntnisse die man anderen voraushat oder denen vorenthalten kann, lassen
sich gut monetarisieren. Eine Finanzindustrie entwickelt laufend Einfälle,
wie ein kleiner Informationsvorsprung zu Geld werden kann und achtet hierbei
streng darauf, dass diese Prozesse von außen nicht durchschaut werden
können, denn dann wäre ja der Vorsprung futsch. Daraus resultiert ein
Weltgefühl, das zu jedem Zeitpunkt vermuten muss, dass die eigene Handlung
sich früher oder später als Teil des Plans anderer Akteure erweist.

 

Woody Allen wusste bereits: "Das Schlimmste was einem Paranoiker passieren
kann, ist, dass er tatsächlich verfolgt wird". Wer ein Gerätchen mit sich
herumträgt, das dauernd Daten ermittelt, mit dem Dritte Geld verdienen,
braucht entweder eine gut ausgebildete seelische Selbstpflege, um darüber
nicht irr zu werden, oder versucht dies gewaltsam zu ignorieren. Was
tückischer Weise zum Preis hat, dass die Manipulation noch besser
funktioniert.

 

Über allem schwebt der Fetisch

 

Vereinzelung und Verfolgungswahn gipfeln in jener monströsen Erscheinung,
die ebenfalls von Marx bereits klar diagnostiziert wurde: dem Fetisch. Die
produzierten Dinge sind innerhalb des kapitalistischen Produzierens nicht
mehr als solche erkennbar, sondern verwandeln sich in zauberhafte Wesen.

 

Die Beschreibung dieser Verrücktheiten, die seit Marx und Engels auf dem
Tisch liegen, stößt heute meist nur auf Unverständnis. Allerdings, gibt es
etwas Verrückteres als den Besitz eines Automobils zu begehren oder
vielleicht sogar das Fahrzeug selbst zu lieben?

 

Die Transportmaschine verlangt von ihrem Besitzer große Investitionen,
Aufmerksamkeit und nicht zuletzt permanente Arbeit, weil das Steuern, das
beispielsweise der Busfahrer für seine Gäste übernimmt, selbst erbracht
werden muss. Meist geschieht dies übrigens in lähmenden Staus. Aber alle
scheinen sich über ihre Blechkisten zu freuen. Es mag sein, sie genießen
darin ihre Abgeschiedenheit und die Simulation von Unabhängigkeit, die ihnen
der Griff ans Lenkrad schenkt. Hauptsächlich erkennen sie darin aber eine
zum Fetisch gewordenen Ware.

 

Die ganze Arbeit, die in der Produktion des Fahrzeugs floss, ist nicht mehr
gegenwärtig. Wäre die soziale Beziehung, die darin liegt, dass ein anderer
Mensch für den Käufer gearbeitet hat, sichtbar, dann könnte die meisten
Menschen nicht einmal mehr ein T-Shirt kaufen. Denn nur die grausamsten
Sadisten würden für ihre Hemden ein kleines Kind im Nebenzimmer erbärmlich
schuften lassen. Wenn das Kind aber in einer Fabrik verborgen ist, fällt die
Sache leicht.

 

In der Abstraktion von der geleisteten Arbeit erhält die Ware einen
objektiven Charakter, der ihr ihren weltbewegenden Rang ermöglicht. Eine
Ware, schreibt Marx im "Kapital", wird somit zu einem mysteriösen Ding, das
sinnlich und übersinnlich zugleich, ihr eigenes Leben zu haben scheint. An
diesem gilt es Teilhabe zu erlangen. Somit wünschen die Menschen sich
Aufnahme in die Welt der Waren, durchaus auch indem sie sich selbst
versuchen in welche zu verwandeln.

 

Der Mensch produziert nicht für den Menschen, sondern für die Ware, die wie
von einem Demiurg göttlich geformt über allem schwebt. Wird eine Ware als
Gegenstand ihres Gebrauchswerts beschrieben, erscheint sie als eine öde
Trivialität, die niemals die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse
begreifbar machen kann. Die Präsenz der Zauberware kann dies hingegen schon,
denn ihre Nähe schenkt allem Bedeutung und deswegen kann die Kaufhandlung
(und insbesondere auch die bloße Möglichkeit dazu) als Lebensessenz
wahrgenommen werden.

 

Marx entwickelte gegenüber diesen verrückten Verhältnissen einen
alttestamentarischen Eifer, in leichter Abwandlung des Bachkantate "Es ist
Dir gesagt, Mensch, was hier abgeht", glaubte er an die Kraft der
Aufklärung. Durch sie hielt er einen geplanten Wandel für möglich. Damit hat
er ohne Frage Recht. Auch suchte er nach praktischen und rationalen
Lösungen, wenn er auch zuweilen prophetisch spekulierte.

 

Heute zeigt sich, auch wenn dank Marx und anderer die Lage eingehend
beschrieben wurde, dann lässt sich leider mit der Täuschung mehr Geld
verdienen. Wer annimmt getäuscht glücklich werden zu können, übersieht mit
Eifer die (seelischen) Folgen kapitalistischen Wirtschaftens. Diese sind
aber beträchtlich und wahrhaft furchterregend. Klimakatastrohe, atomare
Kriegsgefahr und dergleichen sind nur dadurch zu begreifen, dass den
politischen und ökonomischen Akteuren durch den Warenfetisch die Sinne
benebelt wurden.

 

Im Weißen Haus oder beim Volkswagenkonzern hält man die Welt (seien es
Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen) für ein Stück nichtwürdigen Dreck.
Erst wenn der Weltbestand in die Warenform gepresst werden kann und mittels
dieser ein abstrakter Tauschwert erlangt wird, verliert die Welt im Blick
der Kapitalisten ihren "Dreckscharakter". Somit darf sich niemand darüber
wundern, dass kapitalistische Akteure alles, und zwar restlos alles zu
zerstören bereit sind. Es wird sehr schwer werden, sie davon abzuhalten.

 

Frank Jödicke ist Redakteur der Zeitschrift skug, die zum Marxjubiläum
versucht hat, mittels zahlreicher Autoren von Friedrich Tomberg bis zu
Konstantin Wecker einen möglichst vielseitigen Blick aufs Marxsche Werk zu
gewinnen.

 

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