Philosophie Magazin
https://philomag.de/eine-politik-der-spaltung/

28.11.2018

„Wir brauchen eine Politik der Spaltung“

Nancy Fraser zählt zu den bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart.
Theorie und Engagement gehören für sie zusammen. Als Antwort auf den
weltweiten Rechtsruck plädiert sie für einen progressiven Populismus

Das Gespräch führten Nils Markwardt und Dominik Erhard / Aus dem Englischen
von David Döll und Nils Markwardt

Als kürzlich an der TU Berlin die internationale Konferenz „Emanzipation“
stattfand, durfte Nancy Fraser nicht fehlen. Die Professorin für Philosophie
an der New Yorker New School University ist eine der weltweit
profiliertesten Vertreterinnen der Kritischen Theorie, die sich bereits als
Studentin in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu engagieren begann.
Dem politischen Aktivismus ist sie bis heute treu geblieben, zuletzt als
Mitinitiatorin des International Women Strike, bei dem Frauen weltweit für
einen „Feminismus der 99 Prozent“ demonstrierten. Und auch ihr theoretisches
Werk kreist um brennende politische Probleme: Wie lässt sich der Kampf um
soziale Gerechtigkeit mit dem identitätspolitischen Verlangen nach
Anerkennung verbinden? Inwiefern untergräbt der Kapitalismus seine eigenen
Existenzbedingungen? Und wie kann man dem Rechtsruck wirksam entgegentreten?
Ihre dichten philosophischen Analysen verbindet sie dabei mit einer klaren
Forderung: Als Reaktion auf Trump, AfD & Co. brauche es einen progressiven
Populismus. Ob Fraser dessen Verwirklichung in der neuen linken
Sammelbewegung „Aufstehen“ sieht, ist eine von vielen Fragen, denen sich die
Denkerin im Gespräch offen und geduldig stellt.

PHILOSOPHIE MAGAZIN: Frau Fraser, Sie haben einmal gesagt, man könne Sie
zwar als Philosophin bezeichnen, Sie selbst würden sich aber eher als
Gegenwartskritikerin verstehen. Warum?

NANCY FRASER: Ich habe Philosophie studiert und immer an der philosophischen
Fakultät unterrichtet. Aber mich hat auch der linke Aktivismus tief geprägt.
Als 68erin fühlte ich mich natürlich zur Frankfurter Schule hingezogen. Mich
faszinierte die Idee einer interdisziplinären Kritischen Theorie, die die
grundlegenden Ursachen sozialer Ungleichheit klären und überwinden will.
Diese Idee bestimmt mein ganzes Werk. Ich bin also mitnichten eine
Salonphilosophin. Nichtsdestotrotz spiegelt sich in meinen Schriften
unweigerlich meine philosophische Ausbildung wider.

Wie entdeckten Sie die Frankfurter Schule?

Zum ersten Mal stieß ich im College auf sie, als wir in einem Seminar
Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ lasen. Das Buch haute mich um:
Seine Darstellung der konformistischen Tendenzen der „spätkapitalistischen
Gesellschaft“ charakterisierte jene intellektuelle und politische Kultur in
den USA, die ich so hasste! Allerdings war mir schon damals klar, dass sich
Marcuses Argumentation selbst widersprach. Einerseits behauptete er, der
Gesellschaft seien jegliche kritische Impulse ausgetrieben worden.
Andererseits war er aber selbst in der Lage, diese Situation zu beschreiben.
Dennoch wurde das Buch von der Neuen Linken begeistert als Kampfaufruf
aufgenommen - eine Rezeption, die der Diagnose des Buches widersprach. Das
hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck und motivierte mich, mehr zu
lesen. Allerdings entdeckte ich Horkheimer, Adorno und Habermas erst, als
ich meine Dissertation begann. Doch die Frankfurter Schule war und ist ein
zentraler Einfluss für mein Denken.

In Ihrem 1989 erschienenen Buch „Widerspenstige Praktiken“ plädieren Sie für
einen „demokratischen, sozialistischen und feministischen Pragmatismus“.
Deutsche Leser mag das irritieren, da der Pragmatismus hier nicht mit einer
linken Position assoziiert wird.

Für mich folgt aus dem Pragmatismus keine bestimmte politische Orientierung.
Ich halte ihn eher für eine Art, auf der „Weltlichkeit“ des Denkens zu
beharren: Denken ist immer in einem historischen Kontext verankert und muss
auf die spezifischen Sackgassen seiner Zeit reagieren. Es sollte nicht
gottgleich über der Welt schweben. Das Ziel muss vielmehr sein, die Aporien
der Gegenwart zu verstehen und daraus Möglichkeiten der Veränderung
abzuleiten. Philosophisch gesagt: Der Pragmatismus ähnelt eher dem
Linkshegelianismus und teilt damit auch etwas vom Geist der Kritischen
Theorie. Letztere unterscheidet sich jedoch insofern von ihm, als sie nicht
nur scheinbar unverbundene Gesellschaftsprobleme, sondern auch die ihnen
zugrunde liegende Struktur in den Blick nimmt. Anders als
Mainstream-Pragmatisten verfolgen Kritische Theoretiker Probleme bis zu den
systematischen Widersprüchen der sozialen Ordnung.

Kommen wir zu Ihrer Gegenwartsdiagnose. Ihnen zufolge erleben wir gerade
eine tiefe Krise des „progressiven Neoliberalismus“. Was meinen Sie damit?

Wir durchleben gerade einen dieser seltenen historischen Momente allgemeiner
Krisenhaftigkeit, in der die gesamte Gesellschaftsordnung den Anschein der
Normalität verliert und sich als dysfunktional erweist. Das zeigen der
Vertrauensverlust in traditionelle Parteiensysteme und das Erstarken neuer
politischer Alternativen. Beispiele dafür sind Trump und Bernie Sanders, der
Brexit und die Neuausrichtung der Labour Party unter Corbyn, Mélenchon und
der Front National, Podemos oder die AfD. Ich spreche hier bewusst von
rechten und linken Populismen, da sie alle Ausdruck derselben Sache sind:
der hegemonialen Krise des progressiven Neoliberalismus. Wir wissen alle,
was Neoliberalismus ist: das Projekt der Liberalisierung, Globalisierung und
Finanzialisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft, der Entfesselung der
Marktkräfte von staatlicher Kontrolle und des absoluten Vorrangs der
Interessen von Investoren. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass es
unterschiedliche Spielarten des Neoliberalismus gibt. Eine neoliberale
„Verteilungspolitik“, die das Kapital begünstigt und die Wohlhabenden
bereichert, kann sich mit verschiedenen Formen der Anerkennungspolitik
verbinden.

Und diese Verbindung bezeichnet der Begriff „progressiver Neoliberalismus“?
Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir die USA: Bis in die siebziger Jahre gab es hier ein starkes, an
den Ideen des New Deal orientiertes Denken und einflussreiche progressive
Bewegungen. Ein aggressives Deregulierungsprojekt hätte in dieser Situation
überhaupt nichts erreicht. Damit das erfolgreich sein konnte, musste es neu
verpackt und mit etwas anderem verbunden werden, um eine ethische
Legitimation zu erhalten. Die Lösung bestand darin, eine regressive
Verteilungspolitik mit einer progressiven Anerkennungspolitik zu
kombinieren. So entstand der „progressive Neoliberalismus“ als ein seltsames
Bündnis zweier Kräfte: auf der einen Seite die dynamischsten,
postindustriellen, symbolisch aufgeladenen Teile der US-Wirtschaft - Silicon
Valley, Wall Street und Hollywood. Auf der anderen Seite der liberale
Mainstream der „Neuen sozialen Bewegungen“ - liberaler Feminismus und
LGBTQ-Rechte, Multikulturalismus und Umweltschutz. Obwohl Letztere in diesem
Bündnis die Juniorpartner waren, steuerten die „Progressiven“ etwas
Unentbehrliches bei: eine emanzipatorische Fassade, die als Alibi für die
Raubzüge des Kapitals diente. Auch wenn es den Begriff damals noch nicht
gab, begann der progressive Neoliberalismus die US-Politik vor 30 Jahren zu
dominieren: Er festigte sich unter Bill Clinton, blieb während des
Bush-Interregnums einflussreich, kehrte mit Obamas Präsidentschaft an die
Macht zurück und fand schließlich eine perfekte Verkörperung in Hillary
Clinton. Einer Politikerin, die zwar die Sprache des Feminismus spricht,
aber der Agenda von Goldman Sachs folgt.

Der progressive Neoliberalismus hat also den Aufstieg des Rechtspopulismus
ermöglicht?

Genau. Bis vor kurzem bestand der größte Gegenspieler des progressiven
Neoliberalismus im reaktionären Neoliberalismus der US-Republikaner. Diese
hatten eine ähnliche Wirtschaftspolitik, aber eine andere
Anerkennungspolitik: gegen Einwanderer, ethnonational und prochristlich. Es
gab eigentlich nur zwei Arten des Neoliberalismus: Man konnte zwischen
Ethnonationalismus und Multikulturalismus wählen, war aber stets auf
Finanzialisierung und Deindustrialisierung festgenagelt. Diese Kombination
war für die Lebensbedingungen von zwei Dritteln der Bevölkerung verheerend.
Deshalb ist es rückblickend erstaunlich, dass es so lange dauerte, bis sich
der Aufstieg des Populismus vollzog. Ist es verwunderlich, dass Angehörige
der Arbeiterklasse und Mittelschicht ihre Probleme dem progressiven
Neoliberalismus anlasteten? In ihren Augen waren die progressive
Anerkennungspolitik und die neoliberale Verteilungspolitik ein und dasselbe.
Da sie zwischen beidem keinen Unterschied sahen, lehnten sie einfach das
ganze Paket ab. Was durch Trump entstand, war dann eine
reaktionär-populistische Alternative, die sich gegen die neoliberalen wie
auch die progressiven Elemente zu richten schien.

Es gab aber auch die Kampagne von Bernie Sanders.

Richtig, Sanders steht für etwas anderes: für eine progressive populistische
Alternative zum progressiven Neoliberalismus. Wie erwähnt gab es zuvor nur
progressiven Neoliberalismus und reaktionären Neoliberalismus. Mit Sanders
und Trump kamen zwei weitere Optionen hinzu: reaktionärer und progressiver
Populismus. Diese Erweiterung des politischen Koordinatensystems forderte
den Neoliberalismus grundlegend heraus. Damit bestreite ich keineswegs, dass
die neoliberale Wirtschaftspolitik auch heute noch bestimmend ist. Der
exemplarische Fall ist Trump: Er regiert nicht als reaktionärer Populist,
sondern eher als ultrareaktionärer Neoliberaler. Dennoch hat der progressive
Neoliberalismus seine herrschende Stellung eingebüßt, da er seine moralische
Überzeugungskraft verloren hat.

Wie kann man dem globalen Aufstieg des reaktionären Populismus
entgegenwirken? Der US-Historiker Timothy Snyder schrieb jüngst das viel
beachtete Buch „Über Tyrannei“, in dem er fordert, alle Demokraten - von
konservativ über neoliberal bis links - müssten zusammenstehen, um die
liberalen Institutionen zu verteidigen.

Ich schätze Timothy Snyder sehr. Aber ich stimme weder seiner Analyse noch
der strategischen Schlussfolgerung zu. Snyders Vorschlag läuft darauf
hinaus, die alte Matrix politischer Möglichkeiten wiederherzustellen: die
liberal-individualistische Anerkennungspolitik unter Ausschluss progressiver
Formen des Populismus zu stärken und die Verteilungspolitik weiter dem
Kapital zu überlassen. Damit übersieht er einen entscheidenden Punkt: Es ist
gerade die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus, die den Aufstieg
Trumps ermöglichte. Wenn der „Widerstand“ nur darauf abzielt, liberale
Institutionen zu verteidigen, und sich nicht auch mit der politischen
Ökonomie des Neoliberalismus befasst, stellt das bestenfalls den status quo
ante wieder her. Aber das bedeutet, den Boden für zukünftige und noch
schlimmere Trumps zu bereiten! Anstatt der Linken zu empfehlen, die Reihen
zur Verteidigung des Liberalismus zu schließen, würde ich genau das
Gegenteil machen: Wir brauchen eine Politik der Spaltung, um eine neue
progressiv-populistische Mehrheit zu schaffen.

Was meinen Sie mit Politik der Spaltung?

Zum einen geht es um die Aufspaltung der progressiv-neoliberalen Allianz.
Also darum, die Masse an weniger privilegierten Frauen, Immigranten und
People of Color von jenen zu trennen, die ihre Belange vereinnahmt haben:
meritokratische Feministen und Antirassisten, die Prediger der Corporate
Identity und die Apologeten eines „grünen“ Kapitalismus. Zum Zweiten geht es
aber auch darum, den reaktionär-populistischen Block aufzuspalten, Arbeiter
und Angestellte von den ökonomischen und sozialen Kräften zu trennen, die
Militarismus, Fremdenfeindlichkeit und Ethnonationalismus propagieren, jenen
also, die sich als Vertreter des „kleinen Mannes“ ausgeben, aber lediglich
kryptoneoliberal sind.

Was hieße das konkret?

Im ersten Fall bedeutet es, jene liberal-individualistische
Anerkennungspolitik aufzugeben, die sich nur auf Diversifizierung von
Hierarchien konzentriert, anstatt Letztere zu verringern oder gar
abzuschaffen. Anstatt also nur für Meritokratie zu sorgen, muss für
tatsächliche Gleichheit gestritten werden. Im zweiten Fall ist das Ziel,
jene Arbeiter- und Mittelklassefamilien für einen progressiven Populismus zu
gewinnen, die zuletzt für reaktionäre Populisten stimmten, aber nicht
hoffnungslos rassistisch, homophob oder frauenfeindlich sind. Das bedeutet
nicht nur, diese von den neoliberalen Stichwortgebern zu lösen, sondern auch
von den wirklichen Rassisten und Islamophoben. So sind einige Trump-Wähler
zweifellos waschechte Rassisten, aber die Mehrzahl der Wechselwähler nicht.
Das sind vor allem Leute aus der weißen Arbeiterklasse, die hart von der
Deindustrialisierung getroffen wurden. 8,5 Millionen der Trump-Wähler
stimmten 2012 noch für Obama. Das zeigt, dass sie eher aus Opportunismus
denn aus Prinzipientreue bereit sind, einen Rassisten zu wählen, nämlich
dann, wenn dieser Dinge sagt, die ihnen gefallen - und wenn es gleichzeitig
keinen antirassistischen Kandidaten gibt, der diese Dinge ebenfalls sagt.
Diese Trump-Wähler kann und sollte man für einen progressiven Populismus
gewinnen. Während Timothy Snyder also eine Wiederbelebung des progressiven
Neoliberalismus will, bin ich für die Entwicklung eines progressiven
Populismus. Es geht keineswegs darum, die Reihen zu schließen, sondern ich
bin für eine Spaltung zugunsten der Bildung eines neuen, gegenhegemonialen
Blocks.

In Deutschland wird genau das gerade durch die von Sarah Wagenknecht
initiierte Sammlungsbewegung „Aufstehen“ versucht. Letztere richtet sich
dabei auch dezidiert an potenzielle AfD-Wähler. Mit Blick auf Wagenknechts
migrationskritische Positionen sehen Kritiker darin jedoch die Gefahr einer
Annäherung an rechte Positionen.

Ich fürchte, dass ich nicht genug über die deutsche Situation weiß, um etwas
Konkretes zu „Aufstehen“ zu sagen. Sollten die Vorwürfe der Kritiker
stimmen, wirkt es wie die Kehrseite von Timothy Synders Position: Wo er
bereit ist, Umverteilung zugunsten der Anerkennungspolitik zu opfern, würde
im Fall von „Aufstehen“ die Anerkennungspolitik zugunsten der Umverteilung
geopfert werden. Wie gesagt: Ich kann nicht beurteilen, ob das eine faire
Einschätzung von „Aufstehen“ ist. Aber solch eine Position würde ich strikt
ablehnen. Denn man kann diese beiden Dimensionen nicht voneinander trennen.
Versuche, soziale Ungerechtigkeiten hintanzustellen, gehen genauso fehl wie
Versuche, Ungerechtigkeiten in puncto Ethnizität hintanzustellen. Keine
dieser Ungerechtigkeiten kann für sich alleine überwunden werden. Sie müssen
stets zusammen bekämpft werden.

Ein wichtiger Aspekt in ihrem Werk ist der Feminismus. Nicht nur in
theoretischer, sondern auch in aktivistischer Hinsicht. Sie haben sich
beispielsweise unter dem Stichwort des „Feminismus für die 99%“ engagiert.
Was hat es damit auf sich?

Der Feminismus für die 99% ist sowohl ein politisches Projekt als auch eine
aktivistische Intervention. Er steht für eine Alternative zum liberalen
„Durchbrich-die-gläserne-Decke“-Feminismus, von dem vor allem Managerinnen
profitieren. Der Feminismus für die 99% kämpft hingegen auch für die Belange
armer, migrantischer und nicht-weißer Arbeiterinnen und Mittelklasse-Frauen.
Einen Ausdruck findet er im „International Women’s Strike“ (IWS), unter
dessen Banner in den letzten zwei Jahren Streiks und Demos in verschiedenen
Ländern stattfanden. Der IWS begann 2016 in Polen und Argentinien mit
Massenprotesten gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Dieser Geist
übertrug sich schnell auf andere Länder und zeigte sich auch bei Trumps
Amtseinführung. Sie erinnern sich vielleicht an die Frauenmärsche überall in
den USA. Diese enorme Mobilisierung erschien vielversprechend, aber es
fehlte eine politische Agenda. Ein Netzwerk linker Feministinnen, zu dem
auch ich gehöre, entschied sich deshalb zu intervenieren. Am Internationalen
Frauentag 2017 riefen wir den „International Women’s Strike“ im Namen des
Feminismus für die 99% aus. Die Formulierung soll verdeutlichen, dass es
Zeit ist, den Feminismus der Eliten hinter uns zu lassen.
Geschlechtergerechtigkeit bedeutet dort nämlich nur „Diskriminierung“ zu
beseitigen, damit einige „talentierte“ Frauen Karriere machen können. Solch
ein Feminismus ignoriert jedoch die strukturelle Dimension weiblicher
Benachteiligung im Kapitalismus. Er vergisst, dass die Sheryl Sandburgs
dieser Welt nur deshalb so viel Erfolg haben können, weil dieser auf Kosten
jener armen, unterbezahlten Frauen geht, die Haus- oder Pflegearbeit
leisten. Der „Feminimsmus für die 99%“ richtetet sich deshalb auch gegen die
neoliberale Austerität, die wir als Angriff auf die soziale Reproduktion
verstehen. Die Reaktion darauf muss deshalb feministisch und anti-neoliberal
zugleich sein, weshalb unsere Kernforderung lautet: Kapitalistische
Profitinteressen müssen den sozialen Bedürfnissen untergeordnet werden.

In Ihrem jüngsten Buch „Capitalism. A Conversation in Critical Theory“, das
Sie gemeinsam mit der Berliner Philosophin Rahel Jaeggi veröffentlicht
haben, sagen Sie, dass der Kapitalismus nicht nur eine Wirtschaftsform,
sondern eine Gesellschaftsform ist.

Der Kapitalismus ist eine institutionalisierte Gesellschaftsform, die auch
„nichtökonomische“ Beziehungen und Praktiken umfasst, welche für die
Aufrechterhaltung der Wirtschaft zentral sind. Erwerbsarbeit, Produktion,
Warentausch und Finanzwesen brauchen für ihr Fortbestehen bestimmte
Hintergrundbedingungen: Familien, Zivilgesellschaft, Natur, Staaten,
politische Organisationen und nicht zuletzt die Unmengen an unbezahlter und
enteigneter Arbeit, die zumeist von Frauen und People of Color erledigt
wird. All das sind auch konstitutive Elemente des Kapitalismus - und Gründe
für seine Widersprüche und Krisen.

Welche Widersprüche wären das?

Der Kapitalismus hat eine institutionelle Struktur, die auf vier
Trennungsprinzipien beruht, die man in keiner anderen Gesellschaft findet.
Erstens trennt er die „ökonomische Produktion“ von der „sozialen
Reproduktion“. Was wir heute als unterschiedliche Sphären wahrnehmen, war in
vorkapitalistischen Gesellschaften eng verflochten: Kindererziehung,
Hausarbeit und Kochen waren Teil desselben sozialen Raums wie der
Landwirtschaft oder des Handwerks. Im Kapitalismus werden diese Aktivitäten
jedoch als grundsätzlich verschieden behandelt und unterschiedlichen
Geschlechtersphären zugeordnet: Familie contra Fabrik. Zweitens trennt der
Kapitalismus die Erwerbsarbeit „freier Arbeitnehmer“ von dem Bereich der
erzwungenen, unbezahlten Arbeit. Frühere Gesellschaften kannten diese
Trennung nicht. Alle Besitzlosen wurden schlicht als abhängige Subjekte
betrachtet. Nur der Kapitalismus unterscheidet zwischen jenen, die
„einfacher“ Ausbeutung, und jenen, die brutaler Enteignung unterworfen sind
- sei es in Form von Sklaverei, Kolonialismus oder postkolonialer Enteignung
durch Schulden. Und zugunsten des Kapitals werden diese beiden Gruppen dann
mittels einer „Teile und herrsche“-Logik gegeneinander ausgespielt. Drittens
verschärft der Kapitalismus die Trennung zwischen Gesellschaft und Natur. Wo
frühere Ordnungen auf der Nähe des Menschen zur Natur basierten, hat der
Kapitalismus Letztere zu dem gemacht, was Heidegger „stehende Reserve“
nannte: eine Ressource, über deren Regeneration man nicht nachdenkt.
Viertens trennt der Kapitalismus die „Ökonomie“ von der politischen
Herrschaft. Früher waren auch diese verbunden. Im Feudalismus regelte die
Herr-Knecht-Beziehung auch Arbeit, Produktion und Vertrieb. Der Kapitalismus
trennte dies, indem er Arbeit, Produktion und Vertrieb der Macht des
Kapitals zuschlug, während Gesetzgebung und Regierung beim Staat blieben. Da
diese Trennung den Geltungsbereich des Politischen stark limitiert, schränkt
sie auch die Demokratie ein. Die Betonung dieser vier Merkmale des
Kapitalismus soll auf seine verborgene Hinterseite aufmerksam machen. Die
Widersprüche und Krisen des Kapitalismus betreffen weit mehr Bereiche als
die von Marx behandelte Ökonomie.

Zum Beispiel?

Widersprüche bei der sozialen Reproduktion, der Ökologie und der Politik.
Hier produziert der Kapitalismus nicht zufällig regelmäßig Krisen. Getrieben
vom Streben nach grenzenlosem Profit lebt er nicht nur von der Ausbeutung
von Arbeit, sondern eignet sich auch die Natur, öffentliche Güter und
unbezahlte Care-Arbeit an. Der Kapitalismus destabilisiert regelmäßig jene
Voraussetzungen, die er - und wir alle - zum Leben brauchen. Die Krise ist
somit Teil seiner DNA. Deshalb schlage ich ein erweitertes Verständnis des
Kapitalismus vor. Eines, das auch die Belange von Feministen,
Anti-Rassisten, Umweltschützern und Demokraten berücksichtigt. Denn man kann
diese Anliegen nicht getrennt voneinander verfolgen - erst Recht nicht, wenn
man nicht den Kapitalismus als Problem benennt.

--------------------------------------------------------------------------

Nancy Fraser in 6 Daten

1947: Geburt in Baltimore, USA

1968: Fraser nimmt erstmals an den Bürgerrechtsprotesten teil

1980: Promotion in Philosophie an der City University of New York

seit 1995: Professur für Politikwissenschaften und Philosophie an der New
School University New York

2010: Fraser wird der Alfred-Schutz-Preis der American Philosophical Society
zugesprochen

2011: Vorsitz des „Rethinking Social Justice in a Globalizing
World“-Programms der Fondation Maison des Sciences de l’Homme

--------------------------------------------------------------------------

Werke von Nancy Fraser

Widerspenstige Praktiken: Macht, Diskurs, Geschlecht (Suhrkamp, 1994)

In ihrem ersten, im Original 1989 erschienenen Buch setzt sich Fraser unter
anderem mit den Sozialtheorien von Jürgen Habermas und John Rawls
auseinander, um daraufhin den Ansatz für eine sozialistisch-feministische
Kritische Theorie zu entwerfen. Dabei geht sie auch methodisch neue Wege,
indem sie Erkenntnisse aus Poststrukturalismus, Feminismus, Pragmatismus und
Kritischer Theorie kombiniert.

Umverteilung oder Anerkennung: Eine politisch-philosophische Kontroverse
(gem. m. Axel Honneth, Suhrkamp, 2003)

Fraser diagnostiziert eine zunehmende Gegenüberstellung von Forderungen
identitätspolitischer Anerkennung und ökonomischer Umverteilung. Dagegen
entwirft sie eine Konzeption von Gerechtigkeit, die sowohl Anerkennung als
auch Umverteilung einen gemeinsamen normativen Rahmen gibt und beide als
notwendig begreift.

Fortunes of Feminism: From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis
(Verso, 2013)

Ein zentrales Problem des Feminismus stellt laut Fraser dessen aktuelle
Fokussierung auf identitätspolitische Fragen dar, was nicht zufällig mit dem
Rückgang seiner Wirkmächtigkeit und dem Aufstieg des Neoliberalismus
zusammenhänge. Fraser plädiert deshalb für eine Wiederbelebung
feministischer Radikalität, die in der Lage ist, die Kernaspekte der
kapitalistischen Gesellschaft ernsthaft infrage zu stellen.

Capitalism: A Conversation in Critical Theory (gem. m. Rahel Jaeggi, Polity,
2018)

Das Buch erweitert den Blick auf den Kapitalismus, indem es diesen nicht nur
als Wirtschafts-, sondern als spezifische Gesellschaftsform analysiert.
Neben der Ausbeutung von Arbeit eigne sich das Kapital die Natur,
öffentliche Güter und unbezahlte Reproduktionsarbeit an. Damit untergräbt
der Kapitalismus jedoch seine eigenen Existenzbedingungen - dies ist der
Grund für seine Krisenanfälligkeit.


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Ende der weitergeleiteten Nachricht. Alle Rechte bei den Autor*innen.
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitte ich zu entschuldigen!
Das gelegentliche Versenden von E-Mails durch mich ist eine rein private
und persönliche - und niemals berufliche oder wirtschaftliche - Tätigkeit.
Ich nutze Ihre E-Mail-Adresse für keine anderen Zwecke und speichere
keine weiteren Daten außer dem zugehörigen Namen/Organisation.
Ich gebe niemals Daten weiter und lösche auf jede Bitte sofort.
Adresse löschen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Mika Latuschek
greenho...@jpberlin.de

Facebook, Twitter, Mailingliste*:
http://www.facebook.com/mika.latuschek
http://twitter.com/greenhouse_info
http://listen.jpberlin.de/mailman/listinfo/greenhouse-info

RSS-Feed: http://tinyurl.com/feed-greenhouse
... und filtern ("atom", "meer", "wald", ...) mit www.feedrinse.com/tour

Hosted by the political provider JPBerlin of Heinlein-Support
www.jpberlin.de

* Datenschutz nach DSGVO bei JPBerlin:
www.heinlein-support.de/datenschutz



_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an