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Nr. 23/2020 vom 04.06.2020

«Die Macht des einen Prozents gerät unter Druck»

Für den Grossteil der Menschheit war der Kapitalismus schon immer eine 
Katastrophe: Der Soziologe Jason W. Moore über Klimaflüchtlinge im 4. 
Jahrhundert, den Immobilienmarkt bei ansteigendem Meeresspiegel und die 
Erfindung der Wildnis

INTERVIEW: RAUL ZELIK

WOZ: Jason W. Moore, in Ihrem Buch «Kapitalismus im Lebensnetz» fordern Sie, 
dass linke Ökologie den Dualismus «Gesellschaft/​Natur» überwinden sollte. Sie 
betonen die Verschränkung: Gesellschaften erschaffen Umwelten, Naturen 
koproduzieren Gesellschaftsordnungen.

Jason W. Moore: Den Ansatz, den ich und andere verfolgen, nennen wir 
Weltökologie. Darunter verstehen wir weniger eine Theorie als einen Dialog, der 
das Ziel hat, den Kapitalismus als eine Ökologie von Produktion, Reproduktion 
und Macht in einem Netz des Lebens zu beschreiben. Auf Englisch sprechen wir 
von «environment making», also dem gesellschaftlichen Erschaffen von 
spezifischen Umwelten.

WOZ: Was können wir uns darunter vorstellen?

Die Geburt des Nationalismus, der Imperialismus, die Industrialisierung - das 
alles sind Prozesse des «Umweltmachens», die dialektisch verstanden werden 
müssen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir bei «Umwelt» nicht nur an 
Farmen, Felder, Vögel, Bienen und Tiere, sondern auch an kulturelle und soziale 
Umwelten denken. In diesem breiteren Verständnis von «environment making» sind 
Klasse, Imperium und das globalisierende Patriarchat wechselseitig miteinander 
verschränkt.

WOZ: In einem Aufsatz über den Aufstieg der Niederlande als Kapitalmacht im 17. 
Jahrhundert haben Sie das einmal durchgespielt. Der ökonomische Erfolg der 
Niederlande habe auf grossen ökologischen Veränderungen und Landnahmen beruht: 
dem Getreideanbau im Baltikum, dem Holzschlag in Skandinavien. Dieses 
Naturverhältnis erschöpfte sich schliesslich.

Mir geht es darum zu zeigen, dass die kapitalistische Moderne immer spezifische 
umweltmachende Projekte entwickelt hat. Auf diese Weise stellt sie bestimmte 
Lebensnetze her - das Ziel dabei ist, die Möglichkeit der Profiterzielung zu 
erhöhen. Im Inneren dieses Projekts steht eine begriffliche, aber auch 
politisch-praktische Unterscheidung, nämlich die zwischen Zivilisation und 
Wildnis. Als die Europäer nach Amerika, Südostasien und Afrika gingen, brachten 
sie diesen Dualismus mit sich. Teilweise in Gestalt von 
«Christianisierung/​Heidentum», nach dem Zweiten Weltkrieg unter der 
Vorherrschaft der USA dann zunehmend als «Entwicklung/​Unterentwicklung».

Man könnte also sagen, der Aufstieg des Kapitalismus beruht auf der Erfindung 
der «Natur». Präkapitalistische Gesellschaften kennen keine strikte 
Unterscheidung zwischen sich und ihrer Umwelt. Das ist auch deshalb bedeutend, 
weil diese begriffliche Differenzierung historisch eng mit Patriarchat und 
Rassifizierung verknüpft ist. Viele Menschen wurden aus dem 
Zivilisationsprojekt ausgeschlossen und der Wildnis zugeordnet: Frauen, 
Nichtweisse und im Besonderen Afrikanerinnen, Indigene, Kelten und Slawinnen.

WOZ: Sie sagen auch, dass die Verwertung des Kapitals nur so lange 
funktioniert, wie es ein Aussen gibt, das sich in Besitz nehmen lässt: 
Kolonien, kostenlose «Naturräume», die Haus- und Sorgearbeit von Frauen.

Das ist eine These von Rosa Luxemburg, die ich für die wichtigste marxistische 
Theoretikerin des 20. Jahrhunderts halte und die den Imperialismus als eine 
notwendige Konsequenz kapitalistischer Ökonomie betrachtet hat. Mein Argument 
ist, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit nicht nur mithilfe von Kanonenbooten 
und Helikoptern erfolgt, sondern auch durch das sogenannte zivilisatorische 
Projekt selbst. Es gibt eine geokulturelle Praxis der Aneignung - hier beziehe 
ich mich auf die grossartigen Bücher der Feministin Maria Mies. Anders 
ausgedrückt: Jeder kapitalistische Sprung beruhte auf einer noch grösseren 
Welle der Aneignung kostenloser Arbeit von Frauen, Natur und Kolonien mithilfe 
von Gewalt, Kultur und Wissenschaften.

Wichtig erscheint mir, dass der Kapitalismus dabei nicht einfach nur zerstört. 
Er mobilisiert enorme Gewalt gegen alle Formen des Lebens - des menschlichen 
wie des nichtmenschlichen - und verwandelt das Lebensnetz dabei in 
Profitmöglichkeiten. Dies geschieht entweder durch direkte Kommodifizierung, 
beispielsweise indem man eine Landschaft in eine grosse Mine oder eine 
Agrarplantage verwandelt. Oder durch eine bestimmte Rationalität und Expertise, 
mit der sich unbezahlte Arbeit sicherstellen lässt.

WOZ: Auch hier verweisen Sie auf eine Erschöpfung des Modells: Je mehr 
Lebensbereiche und Regionen in Wert gesetzt sind, desto kleiner wird das 
Aussen. Was bedeutet das nun aber für die Zukunft?

Der Klimawandel untergräbt das Modell der billigen Natur. Wo lässt sich eine 
neue Front vorantreiben, wo also könnten Gebiete und Bereiche erschlossen 
werden, die bislang relativ unberührt vom Kapital sind? In Europa wird oft nach 
Afrika gefragt, aber dieser Kontinent ist vom Imperialismus bereits gründlich 
verwüstet worden. Ich halte das für ein systemisches Problem der 
Kapitalakkumulation: Die Quellen der einfach anzueignenden Arbeit von Frauen, 
Natur und Kolonien versiegen allmählich. Gleichzeitig wächst der Kapitalstock. 
Bei Bloomberg war vor einigen Monaten zu hören, dass dreizehn Billionen 
US-Dollar in nationalen Schuldverschreibungen geparkt sind, die keine oder 
Negativzinsen einbringen. Ein klassisches Problem der Überakkumulation. Ein 
weiterer Anlageort sind Immobilienmärkte - die stark vom Klimawandel betroffen 
sein werden, weil der ansteigende Meeresspiegel grosse Immobilienvermögen 
vernichten wird.

WOZ: Sie kritisieren die apokalyptischen Vorstellungen von Teilen der 
Umweltbewegungen, argumentieren aber selbst, dass die kapitalistische Moderne 
ihre ökologisch-materiellen Grenzen überschreitet, weil ihr Stoffwechsel mit 
der Natur nicht nachhaltig ist.

Vielleicht sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass der Kapitalismus für 
einen grossen Teil der Menschheit schon immer eine Katastrophe war und ist. Auf 
der anderen Seite ist der Begriff der Apokalypse tief in einer 
christlich-apokalyptischen Tradition verwurzelt. Teile der ökologischen Linken 
in den USA klingen ganz ähnlich wie der christliche Fundamentalismus: «Dies ist 
der Moment der Wahrheit», «der grosse Bruch» und so weiter. In dieser Erzählung 
übt die Natur Rache, und wir müssen uns organisieren, um die Menschheit zu 
retten. Ich denke stattdessen, dass wir uns intensiver mit den globalen Macht-, 
Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen beschäftigen sollten, die mit den 
biophysikalischen Naturen verknüpft sind.

WOZ: Können Sie das noch etwas ausführen?

Ich würde begrifflich zwischen Krise und Katastrophe unterscheiden und von 
einer epochalen Krise sprechen. Charakteristisch für diese Art der Krisen ist, 
dass sie sich teilweise über ein Jahrhundert hinziehen. Es ist also gut 
möglich, dass es Gebiete auf der Welt geben wird, in denen die sozialen 
Beziehungen in den nächsten zwanzig, dreissig oder vierzig Jahren sehr ähnlich 
aussehen werden wie heute. Und doch entfalten sich auf systemischer Ebene 
sozioökologische Probleme und Krisen, die durch Macht und Business as usual 
nicht gelöst werden können.

WOZ: Müssen wir weiter in der Geschichte zurückblicken, um zu verstehen, wie 
Klimaprozesse und grosse Krisen Gesellschaften verändern?

Ja, denn Zivilisationen stürzen nicht durch einen Sturm auf die Bastille oder 
den Winterpalast. Mir scheint, dass Marxisten keine Alternative zum Begriff des 
Kollapses entwickelt haben. Der «Kollaps von Zivilisationen» war nämlich in der 
Geschichte häufig ein Kollaps des oberen einen Prozents einer 
Klassengesellschaft. Als Westrom zusammenbrach, kollabierte die Welt der oberen 
ein bis zehn Prozent, doch für etwa fünf Millionen Menschen bedeutete es das 
Ende der Sklaverei, und die Bauernschaft erlebte in Zentraleuropa im 6. und 7. 
Jahrhundert eine Art goldenes Zeitalter. Ganz ähnlich war auch das Ende des 
europäischen Feudalismus, der durch Pandemien und Klassenkämpfe besiegt wurde: 
Damals stieg der Lebensstandard für Bauern und Arbeiterinnen für etwa 150 
Jahre, bis es zu einer Gegenrevolution kam.

WOZ: Wie wird der Klassenkampf der Zukunft aussehen?

Krisen eröffnen Gelegenheiten. Der Klimawandel wird das Leben für die unteren 
achtzig bis neunzig Prozent der Weltbevölkerung gewiss viel schwieriger machen. 
Doch auch die Macht des oberen einen Prozents gerät unter Druck. Und hier 
eröffnet sich die Möglichkeit, uns eine nichtkapitalistische Gesellschaft 
vorzustellen. Der alte linke Slogan, der jetzt neu aufgelegt wird, 
«Ökosozialismus oder Barbarei», ist in diesem Zusammenhang allerdings eine 
fürchterliche und völlig falsche Metapher, denn erstens waren die Barbaren des 
späten 4. Jahrhunderts selbst Klimaflüchtlinge, und zweitens zerstörten sie die 
Sklavenhaltergesellschaft Roms.

Jason W. Moore lehrt und forscht als Soziologe, Umwelthistoriker und 
historischer Geograf an der Binghamton-Universität im US-Bundesstaat New York.

Der 49-Jährige ist Autor der überaus originellen Studie «Capitalism in the Web 
of Life. Ecology and the Accumulation of Capital», mit der er international 
viel Aufsehen erregte. Das Buch ist Ende 2019 auch auf Deutsch erschienen: 
«Kapitalismus im Lebensnetz» bei Matthes & Seitz, Berlin (471 Seiten, 52 
Franken).

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