Leipziger Volkszeitung https://www.pressreader.com/germany/leipziger-volkszeitung/20201126/281900185765086 15:56 25.11.2020
„Die Triple-Krise“ Josef Settele: Artensterben, Klimawandel und Corona hängen zusammen Es sind die großen Krisen der Gegenwart: Artensterben, Klimawandel, Corona-Pandemie. Josef Settele, der in Leipzig und Halle forscht, erklärt jetzt in einem beeindruckenden Buch, wie alles mit allem zusammenhängt - und was die gemeinsame Ursache ist Von Mathias Wöbking Gerät der Klimaschutz aus dem Blick, wenn sich alle Anstrengungen auf Corona richten? Oder verschafft die Pandemie der Natur eine dringend benötigte Atempause? Die Bilder des ersten Lockdowns im Frühjahr sind noch im Gedächtnis: kein Smog über Peking, Rehe in den Straßen von Paris, im Bosporus schwimmen Delfine. Hilft das fiese Virus vielleicht sogar, den Artenschwund zu bremsen? Artensterben, Klimawandel und die Corona-Pandemie haben etwas gemeinsam. Und zwar nicht nur, dass es oft dieselben Zeitgenossen sind, die alle drei Phänomene leugnen. Nein, in einem beeindruckenden neuen Buch sammelt Josef Settele [1] etliche Belege für seine These: „Der Mensch ist der Verursacher der Triple-Krise. In seiner Verantwortung liegt es, sie zu verhindern.“ Der 59-jährige Agrarbiologe, der am Helmholtzzentrum für Umweltforschung das Leipziger Department Naturschutzforschung leitet und als Professor an der Uni Halle-Wittenberg lehrt, war bis 2019 federführend im Weltbiodiversitätsrat. Er berät die Bundesregierung in Umweltfragen. Seine Veröffentlichungen gehören nach einem unabhängigen Ranking zu den meistzitierten. Abgesehen von der Co-Autorschaft an einem Schmetterlingsführer ist „Die Triple-Krise“ [2] Setteles erstes Buch für ein breites Publikum. Allerdings habe er keinen Stein der Weisen gefunden, „nicht mal ein Kieselsteinchen“, schreibt er. Settele warnt einerseits vor Alarmismus. „An die Apokalypse glaube ich nicht.“ Er behält sich weiterhin Grillabende, Autofahrten und Flugreisen vor. Andererseits beginnt er mit einer Horrorvision, einer Zeitreise in ein Jahr 2040, in dem Insekten ausgestorben sind: Fleisch ist billig, seit es im Labor gezüchtet wird, aber Obst und Kaffee sind unerschwinglich. Menschen bestäuben die Pflanzen manuell, für Miniroboter ist die Aufgabe zu anspruchsvoll. Wälder stinken und sind Sperrgebiet - zu gefährlich wegen herabfallender Äste und der Keime aus Kadavern, die nur sehr langsam verwesen. Selbst Vögel leben nur noch in den Städten. Covid-38, hervorgerufen durch eine Virusmutation, die von Nilflughunden übergesprungen ist, fordert etliche Millionen Menschenleben. „Ziemlich unwissenschaftlich“, gibt Settele zu und beschwichtigt: „So schlimm wird es nicht kommen.“ Denn anders als in dem Szenario sind Insekten seit Jahrmillionen extrem anpassungsfähige Überlebenskünstler. Mit den Fakten der folgenden rund 300 Seiten trägt er allerdings nicht zur weiteren Beruhigung bei. Im Gegenteil. Mehrere Teufelskreise rotieren, vom Menschen in Schwingung gebracht, immer schneller. Allen voran eine unheilvolle Allianz von Klimawandel und Artenschwund. Ob durch fossile Energieträger, Waldbrände, entwässerte Moore, schmelzenden Permafrost, pupsende Kühe: Die globale Durchschnittstemperatur hat sich bereits um 1,1 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit erhöht. Zwei Dürrejahre hintereinander wie 2018 und 2019 gab es seit 1766 nicht (davor fehlen die Daten). Die Erwärmung schadet auch den Insekten. Lebensräume verändern sich. Die Tierchen tragen ihrerseits zum Wandel bei: Ihr Lebenszyklus passt nicht mehr unbedingt zu dem der Pflanzen. Weniger Bestäubung führt zu weniger Vegetation; weniger CO2 wird gebunden. Die Erde erwärmt sich weiter. Wenn Insekten verschwinden, kollabieren ganze Ökosysteme. Von den geschätzten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten der Erde sind rund eine Million vom Aussterben bedroht. Aber nicht alle Insektenarten sind Leidtrage des Klimawandels. Vor allem manche Generalisten profitieren, meist eher Schädlinge als Nützlinge, bedauert Settele. Wie reagiert der Mensch? Er greift zur Chemiekeule - und tötet alles, was auf Äckern und drumherum kreucht und fleucht. Die intensive Landwirtschaft mit ihren Monokulturen bedroht die Artenvielfalt aktuell noch stärker als der Klimawandel. Ein Feld aus Raps oder Mais, angebaut, um Bioenergie zu ernten, sei für die meisten Insekten „so wertvoll wie ein geteerter Parkplatz“, zitiert Settele einen Forscherkollegen. Mit der Landnahme für Ackerbau oder neue Stadtviertel kommt die dritte Krise ins Spiel: Wenn Pufferzonen zwischen Mensch und Tier schwinden, steigt das Risiko, dass neuartige Erreger überspringen. Vor einer Rückkehr der Pandemien hatten Forscher schon vor Corona gewarnt. Eine Studie, an der Virologie-Star Christian Drosten beteiligt war, kam nur wenig zu früh, um Schlagzeilen zu machen. Im Dezember 2019 berichtete das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, dass es in Proben aus 1243 Insektenarten mehr als 20 neue Virusgattungen gefunden habe. Der Weltbiodiversitätsrat, dem Settele angehört, schätzt, „dass bei Säugetieren und Wasservögeln noch immer 1,7 Millionen nicht identifizierte Viren existieren, von denen die Hälfte Menschen potenziell infizieren können“. Früher oder später würde es ein unbekannter Erreger schaffen, das war längst klar. Auf dem Gebiet der Zoonosen sei er kein Spezialist, so Settele, „aber was ich weiß, reicht, um zu sagen: Das war noch nicht alles.“ Außer Frage steht, dass die fortschreitende Brandrodung und Abholzung im Amazonasgebiet das Klima aufheizt und Arten ausrottet. Überdies vermuten Fachleute dort unzählige unbekannte Insektenarten. Der Mensch rückt ihnen näher: „Das Coronavirus von 2019 ist harmlos gegen das, was im Dschungel auf uns wartet.“ Der Klimawandel erleichtert invasiven Arten zudem, sich dauerhaft in neuen Gebieten anzusiedeln. Sie gefährden nicht nur etablierte Ökosysteme: Sie bringen Krankheitserreger mit. Das West-Nil-Virus überwintert dieses Jahr vermutlich zum dritten Mal in der Region Leipzig. Davon ist nach vereinzelten Infektionen in den Sommern 2019 und 2020 auszugehen. Auch Dengue- und Zikaviren könnten in der Zukunft nach Mitteleuropa vordringen, ebenso Malaria. Doch wie will die Menschheit die wachsende Weltbevölkerung ernähren und ihren Energiebedarf stillen, wenn nicht mit intensiver Landwirtschaft, mehr Anbauflächen, Energie auch aus Raps und Mais? Settele wuchs in einem Dorf im Allgäu auf und nimmt die Bauern in Schutz. Sie schätzen die Natur, ist seine Erfahrung. Sie müssen nur davon leben können, die Welt mit nachhaltiger Landwirtschaft satt zu machen. Seine Lösung ist kein Stein der Weisen. Aber doch ein Kieselchen? „Es kommt auf jeden Einzelnen an“, fordert er. „Ein nicht gekauftes Stück Fleisch ändert nicht das Klima. Zehntausende schon.“ Den Rasen seltener mähen, die Hecke nicht so oft stutzen, keine Insektizide im Garten: Vielen Arten wäre geholfen. „Seit Jahrzehnten wissen wir: So kann es nicht weitergehen. Aber es geht dennoch immer so weiter.“ Vielleicht rüttelt das Virus bei allem Leid, das es bringt, wenigstens wach, hofft Settele: „Für mich ist die Corona-Pandemie ein unüberhörbares Signal an die Menschheit. Es ist langfristiges globales Handeln nötig, um die Uhr anzuhalten oder entscheidend zurückzudrehen.“ -- [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Settele [2] https://books.google.de/books?id=QZ31DwAAQBAJ&printsec=frontcover _______________________________________________ Pressemeldungen mailing list Pressemeldungen@lists.wikimedia.org https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen