Buch-Empfehlung: KALTLAND ( #NSU <https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23NSU> #Rechtsextremismus <https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23Rechtsextremismus> #Nazis <https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23Nazis> )

"Kaltland" versteht sich als Sammlung literarischer Texte, Erinnerungen, Berichte und Reflexionen zu den frühen 90er Jahren, als kurz nach der sogenannten "Wiedervereinigung" Asylbewerberheime in Deutschland brannten, Politiker von einer "Asylantenflut" fabulierten, der völkische Pöbel Wahn in die Realität von Gewalt verwandelte und Orte wie Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen plötzlich europaweit bekannt wurden. Eine Sammlung "wider das Vergessen" will der Band sein, gemessen am deutschen Erinnerungskultur-Mainstream ist er eine Sammlung "nach dem Vergessen".

In der "Erfolgsgeschichte Deutschland", im 90er Jahre TV-Rückblick, beim "Montagsdemo-Revival", im Kino, das sich lieber der RTL-Version der RAF widmet oder im literarischen Subgenre "Wenderoman" ist kein Platz für die Opfer der Gewalt: "Die massiven Angriffe auf Asylbewerberheime in Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992) waren [...] nur die Spitze des Eisbergs. Umso bizarrer mutet es an, dass man diesen Themenkomplex in den bislang erschienenen Romanen und Erzählbänden über die Wende- und Nachwendezeit meist vergeblich sucht." Kaltland berichtet also von dem, was Griffith (noch affirmativ) die "Geburt einer Nation" nannte: "In den Jahren nach 1989 wurde aus [...] [dem] staatsgemeinschaftlichen >>Wir<< ein völkischer Kampfbegriff, und nach Vollzug der staatlichen Einheit konstituierte sich die völkische Einheit über brennende Asylbewerberheime, Menschenjagden und Morde in beiden Teilen Deutschlands."

Dabei ging es nicht nur um eine Handvoll gewaltbereiter Jugendlicher oder Berufsnazis. Nein, daneben stand johlend, schimpfend und feiernd ein Heer deutscher Normalbürger mit "gesundem Volksempfinden". Als ich mir nach Jahren bei den ersten Skizzen zu dieser Rezension noch einmal einige Aufnahmen der Fernsehberichte zwecks Gedächtnisüberprüfung anschaue, fällt mir das obsessive Gerede dieser Zeugen- Mittäter auf -- ihr Diskurs kreist in aller Berechenbarkeit allein um den Terror der deutschen Sauberkeits- und das heißt auch Körperphantasien: die "Ausländer" und "Asylanten" sind "dreckig" und "schmutzig", sie "scheißen überall hin", sind eine "Flut" usw. usf., also "müssen" ihre Wohnungen brennen. Es ist nicht notwendig Anhänger der Theweleit'schen Theorien bzgl. des deutschen Institutionenkörpers und dessen tödlicher Politik der Körperlichkeit zu sein, Plausibilität erlangen sie hier dennoch, schlagartig.

Den Großteil, der in "Kaltland" versammelten Texte stellen Erinnerungen, Rückblicke und Erfahrungsberichte dar, die diese Zeit des Übergangs und des reaktionären Backlashs noch einmal Revue passieren lassen oder in kurzen Anekdoten vergegenwärtigen. Manche Autoren wählen einen persönlicheren Zugang, manche einen literarischeren, manche wiederum den Stil der Reportage oder des nüchternen Protokolls. Obwohl dabei manches eher privatim wirkt, der ein oder andere Schreibstil vielleicht eher glättet als konkretisiert, ergibt sich aus der Vielzahl der Beiträge bei kontinuierlicher Lektüre ein Mosaik aus Erinnerungs-, Erlebnis- und Erfahrungssplittern dieser Jahre. Signifikanz erhalten die einzelnen Texte durch die Konstellationen, welche sie eingehen, denn erst in diesen Konstellationen zeichnet sich das Ausmaß der gemeindeutschen Gedächtnislücken ab.

In ihrem Aufsatzband "Gefährdetes Leben" fragt Judith Butler "Was macht ein betrauernswertes Leben aus?" und forscht zugleich nach dem Zusammenhang von Dehumanisierung und der Freigabe von Menschen zur Gewalt. Kaltland markiert in und zwischen seinen Beiträgen Teile dieser politischen, medialen und sozialen Prozesse der Dehumanisierung, die nach den Bränden kein Ende fanden. Die damalige Verschärfung des Asylrechts war das juristisch-politische Ausrufezeichen hinter den Fußtruppen des Volks und der Nation. "Ohne rassistische Gewalt kein neues Deutschlandgefühl, das sich zuerst in den Lichterketten geregt hat. Und ohne >>Druck von der Straße<< keine Legitimation für die Politik, das Grundgesetz so zu verändern, dass Deutschland heute von >>sicheren Drittstaaten<< umzingelt ist und gezielt selektieren kann, wer rein darf und wer zurückgeschickt wird [...]" -- so formuliert es einer der Beiträger (Alexander Karschnia). Insofern ist Kaltland ein Beitrag zur Gegenwart, ein Stück Genealogie.

KALTLAND.
KARSTEN KRAMPITZ, MARKUS LISKE, MANJA PRÄKELS (Hg.):
[Brosch., 287 S., Berlin 2011, Rotbuch, 14,95EUR]
http://www.rotbuch.de/programm-3/titel/1147-Kaltland.html <http://www.rotbuch.de/programm-3/titel/1147-Kaltland.html>

Die Rezension wurde von Michael Wehren verfasst und erschien in testcard
http://www.testcard.de/titel.php?pid=1303
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