Ende 2007, Berlin

Nachdem ich mir nun in den vergangenen Wochen die drastischen Diskussionen auf der Nettime-Liste mit Interesse durchgelesen habe, kann ich nicht anders und muss meinem inneren Drang freien Lauf lassen, einmal die doch sehr gegensätzlichen Prinzipien von Kommerz und Underground schriftlich niederzulegen.

Kommerz vs. Underground

Am Anfang einer Bewegung oder Szene steht das gemeinsame Interesse einiger weniger Personen, die sich aus Spass an der Freude zusammenfinden und mit persönlichem Einsatz etwas aufbauen wollen. Die ersten Ereignisse finden statt, alle sind glücklich, zufrieden und noch immer mit Spass an der Sache dabei.

Einige Aktive werden im Laufe der Zeit auch beträchtliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben, um die Sache voranzutreiben. Schliesslich liegt es in der Natur des Menschen, sich auszudrücken und zu vermitteln, und dadurch entsteht der Drang, eine anfangs kleine, überschaubare Szene immer neuen Personen nahezubringen. Alles andere würde auf Dauer keinen Spass bringen. Wenn eine Szene tatsächlich so sehr im Underground bleibt, dass keine neuen Individuen dazukommen, bleibt letztlich alles stehen, wird langweilig und stagniert.

Was muss also passieren? Kommunikation nach Aussen im weitesten Sinne entsteht: guten Freunden wird nahegelegt, doch auch zum nächsten Ereignis zu erscheinen und mitzumachen, die ersten Ankündigungen werden gedruckt, man bewirbt sich selbst im Internet oder schaltet kostenlose Anzeigen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Anzahl der Beteiligten steigt kontinuierlich, anfangs weniger, später jedoch immer schneller. Mit steigender Zahl wird aber auch die Menge derjenigen immer grösser, die selbst nicht aktiv in der Szene mitmachen können/wollen, sondern diese, respektive ihr "Produck" letztlich nur konsumieren.

Hier kommt nun der Zeitpunkt, wo sich die Geister bei den aktiv Beteiligten scheiden. Auf der einen Seite gibt es die Idealisten, für die wirklich nur die Sache an sich zählt. Sie haben keine finanziellen Interessen, wollen sich nicht profilieren und hecheln keinerlei Machtansprüchen hinterher. Auf der anderen Seite gibt es Personen, die bereits genauso viel für die Sache getan haben, jedoch niemals wirklich so idealistisch waren, wie es den Anschein machte. Denjenigen kann nicht mal ein Vorwurf gemacht werden; vermutlich liegt es wieder in der Natur des Menschen, dass er irgendwann einmal die Früchte seiner Ernte geniessen möchte.

Sollte die Zahl aktiv Beteiligter dadurch wieder schrumpfen, gleichzeitig das Interesse an der Sache aber bereits relativ gross geworden ist, kommt es zu der Situation, wo die wenigen Aktivisten ohne weitere Hilfe von Aussen nicht mehr weit kommen, um die Szene weiter wachsen zu lassen. Nun muss eine sehr grundsätzliche Entscheidung getroffen werden: wird in bisherigem, kleinen Stil weitergemacht oder sollen die entstehenden Aufwände in irgendeiner Form finanziell abgesichert werden?

Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, entscheidet sich der weitere Verlauf der Dinge. Dennoch kann es auch bei der Entscheidung, "klein" weiterzumachen, schon zu spät sein. Falls die passive Szene bereits derart gross geworden ist, dass man sie künstlich beschneiden müsste, um in undergroundiger Art und Weise fortzufahren, ist es nicht mehr möglich, die Kommerzialisierung aufzuhalten.

Kommerzialisierung muss in diesem Zusammenhang nicht unbedingt die Anreicherung materieller Werte bedeuten. Sie kann sich ebenso dahingehend äussern, dass sich im Laufe der Zeit ein dem breiten Publikum gefälliges "Subproduck" herausbildet.

Solche Massentauglichkeit wird in den seltensten Fällen von den Massen selbst definiert, sondern vielmehr durch gezielte Beeinflussung des instinktiven Verhaltens der teilnehmenden Menschen. Bei den meisten Ereignissen stehen, von Aussen betrachtet, wenige Personen im Vordergrund, die schliesslich auch von den Teilnehmenden als die eigentlichen Macher verstanden werden. Automatisch wird ein subjektives Heldentum entstehen, das sich auf einen weiten Teil der Teilnehmer ausbreiten wird. Dies ermöglicht es den Aktivisten, durch geschicktes Präsentieren und Auftreten die Masse zu beinflussen.

Durch diese Fokussierung auf einen meist organisatorisch bestimmten Mainstream werden zwar viele anderen "Producks" von der breiten Öffentlichkeit abgeschnitten, haben so jedoch weiterhin die Chance, lange Zeit in einer eher undergroundigen Szene zu überleben.

Die finanzielle Kommerzialisierung kann in fortgeschrittenen, entwickelten Szenen durchaus durch die Initiative von Einzelpersonen entstehen. Wird der Kreis Beteiligter im Laufe der Zeit zu gross, so wird auch die Wahrscheinlichkeit immer höher, dass machtsüchtige, mit dem ursprünglichen Interesse nichts mehr gemein habende Personen versuchen werden, sich Macht zu verschaffen.

Das Betreten der sogenannten "Syntack" durch jegliche finanzielle Kommerzialisierung setzt plötzlich jedoch völlig andere Rahmenbedingungen voraus. Durch die in den meisten Fällen vorhandenen finanzmachtgetriebenen Bedingungen und Einschränkungen, leiden vorhandene Ideale und Prinzipien der urspünglichen Aktivisten. Einige werden die Szene verlassen, andere die Situation nutzen und sich kommerziell betätigen.

Das individuelle Verhalten diesbezüglich und die persönliche Entscheidung der weiteren Vorgehensweise bleibt jedem selbst überlassen. Das marktwirtschaftliche System, in dem wir uns befinden, bietet hinreichende Möglichkeiten, die Situation anderer eigennützig und rechtskonform auszunutzen. Moralische oder ethische Bedenken greifen hier überhaupt nicht, da das System selbst durch meist klar definierte Gesetze reglementiert ist. Solange sich jemand an die Regeln hält, kann man nichts gegen ihn tun.

Es gibt keine goldene Regel, wie man sich in diesen ganzen Prozessen verhalten sollte. Jeder muss für sich entscheiden, in wie weit gewisse Verhaltensregeln mit Idealismus und Prinzipien vereint werden können. Das dahinterstehende System erscheint oftmals ungerecht, gerade gegenüber den Schwachen. Letztlich hat man nur die Wahl zwischen Mitlaufen, Dagegentreten und Auswandern.

Entscheidet selbst und versucht, Euch wenigstens ein bischen treu zu bleiben.


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