KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Band 197, 2009 Gespraeche mit Kuenstlern, S. 296ff
Gerald Nestler Der Mensch als Derivat Ein Gespräch von Dieter Buchhart Seit vielen Jahren sucht Gerald Nestler die Wirtschaft als Leitparadigma unserer Zeit zu untersuchen, wobei er sich als Boersenbroker und Trader oder Firmenmitbegründer auch kurzzeitig in das System einschleuste, um die Machtstrukturen und den abstrakten Umgang mit Mensch und Welt von innen zu erforschen. In seinen Projekten bewegt sich Nestler im amorphen, sich permanent verändernden Ueberschneidungsraum zwischen Wirtschaft, Leben und Kunst. Er baut Rahmen, innerhalb derer er zusammen mit anderen KünstlerInnen, VertreterInnen der Wirtschaft, WissenschaftlerInnen oder Interessierten agiert. In dem umfassenden Projektkomplex *resource.future* hinterfragt Nestler gemeinsam mit Toni Kleinlercher die Auflösung des Individuellen in wirtschaftlichen Großsystemen, die Virtualität des Geldes im Börsenhandel und den Begriff der Marktwirtschaft als mittlerweile weltumspannendes Herrschaftssystem. So verbinden die Künstler in der audiovisuellen Installation *sexy curves* Boersenkurse und Handelsgeräusche mit Herzfrequenzdiagrammen und Ultraschallherztoenen oder stellen in *CEOs* fuehrende VertreterInnen der Wirtschaft in performativer Weise in den Mittelpunkt einer Videoporträtreihe. Dabei haben sich die Wirtschaftsbosse dem ungewohnten künstlerischen Setting zu beugen, wobei ihre professionelle Selbstinszenierung als solche entlarvt wird, wodurch der offensichtlichen Gefahr dieses kuenstlerischen Ansatzes zur Repraesentation der Maechtigen instrumentalisiert zur werden widersprochen wird. Nestler infiltriert gleich einem Virus das System ob auf der CeBIT, der oesterreichischen Industriellenvereinigung oder im Börsenhandel, indem er ungewohnte dissonante Informationen entgegen dem gerichteten Informationsfluss hinein- und wieder herausschleust. *** Dieter Buchhart: Zwei Jahre lang hast du in den 1990er Jahren als Börsenbroker und Trader in Hamburg gearbeitet. Was hat dich an diesem Job gereizt? Gerald Nestler: Anfang der 1990er Jahre entstand ja ein ziemlich großes Interesse, das Internet als neues Kunstfeld zu entwickeln. Es wurde mir jedoch bald klar, dass das Internet in weiterer Folge wie jedes andere soziale Feld sehr stark von der Wirtschaft bestimmt werden würde. Ich begann mich für Oekonomie zu interessieren, als etwas das in das ästhetische Bewusstsein und die Individualität der Menschen extrem hineinwirkt und gesamte gesellschaftliche Prozesse veraendert. Ich fand dies als Kunstinhalt, über den man geradezu arbeiten muss, sehr spannend. Man kann aber nicht Projekte über etwas machen, über das man nicht wahnsinnig viel weiß. Ich habe zu dieser Zeit in Hamburg gelebt und habe bei einer dieser Firmen buchstäblich angeheuert. Abgesehen vom Geldjob war es Feldforschung, um herauszufinden, wie Wirtschaft im angewandten Bereich funktioniert. Wie die Boerse, die Virtualität des Geldes, dieser Austausch funktioniert und was die Hintergruende sind. So konnte ich herausfiltern, was für mich wichtig ist, um eine Basis zu haben, Projekte auf diesem Gebiet zu realisieren. DB: Inwiefern hat diese Arbeit Einfluss auf deine Kunstpraxis? GN: Meine Kunstpraxis ist dadurch sehr viel performativer geworden. Sie lebt praktisch auch aus diesem Wissen heraus. DB: Ist sie Grundlage deiner Arbeit? GN: Sie ist ein wichtiger Teil, aber nicht die einzige Grundlage. Dazu gehoeren neben künstlerischen Strategien auch technologische Entwicklungen genauso wie gesellschaftliche Potentiale. DB: Das gemeinsam mit Toni Kleinlercher erarbeitete Projekt *resource.future* habt ihr als *Konzept zur Aesthetik der Wirtschaft* bezeichnet. Was ist der Grundgedanke dieses umfangreichen Themenkomplexes? GN: Der Grundgedanke von *resource.future* liegt in den beiden Wörtern Ressource und Future und hat viel damit zu tun, dass der Mensch als Human Ressource gesehen wird. Es wird alles, was die Welt inklusive Menschen zu bieten hat, als Ressource gesehen. Dieser Umgang mit Welt und Mensch und die weitere Entwicklung in einer leitparadigmatisch wirtschaftlich orientierten Welt ist Basis dieses Projektes. DB: Was bedeutet *Ästhetik der Wirtschaft*? GN: Das ist eigentlich eine Frage, die wir im Prinzip auch an die Wirtschaft zu stellen haben. Mein Interesse und meine Herangehensweise ist Rahmen zu bauen, Situationen zu schaffen, in denen agiert werden kann. Es geht um Entwicklungspotentiale. Aesthetik bildet sich durch den Inhalt der Arbeit und die Leute selbst, als Form der Wahrnehmung. Was bedeutet Aesthetik in einer durch Wirtschaft geprägten Zeit? Die Ästhetik der Wirtschaft ist somit eine Frage an uns als Individuen, als Gesellschaft und unsere Idee von dem, was Gesellschaft sein kann beziehungsweise sein soll. DB: In deiner gemeinsam mit Toni Kleinlercher entwickelten Arbeit *sexy curves* - als Teil von *resource.future* - habt ihr Boersenkurven Herzfrequenzkardiogrammen gegenübergestellt beziehungsweise damit überlagert. Was interessiert euch an diesen abstrakten Darstellungssystemen? GN: *sexy curves* handelt von der Aufloesung des Individuellen in wirtschaftlichen Großsystemen. Wir haben es in dieser abstrakte Form umgesetzt, da es uns weniger um direkte Anspielungen auf Unternehmen und Menschen, sondern um eine paradigmatischere, minimalistischere Darstellungsform von Systemen, die sich in beiden Varianten beschreiben lassen, ging - also Herzrhythmuskurven und Boersenkurse. Hinzuzufügen ist, dass es sowohl in medizinischen als auch in finanzwirtschaftlichen chaostheoretischen Forschungsbereichen Algorithmen gibt, die Risikobereiche gleich beschreiben. Wir haben dies als audiovisuelle Metapher benutzt, um die Systeme ineinander ueberzuführen. DB: Wieso sind diese Kurven sexy? Wie ist dieser mehrdeutige Titel zu verstehen? GN: Es geht sehr stark um die Emotionalität, die hinter diesen Systematiken liegt. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Der gigantische Börsenapparat mit generell riesigem Technologieaufwand wird nicht unwesentlich von Emotionen bestimmt, die Beteiligten finden das auch sexy. Es geht um Formen von Austausch, Repraesentation, Wert, Verlust und ihre Verankerung im Emotionalen, im Sozialen. Es geht somit um Existenzielles und Lebendiges. Die scheinbar coolen Daten spiegeln Lebensäußerungen unserer Zeit wider. DB: Hat sich in der Weiterarbeit mit *sexy curves* 2003 auf der 2. Biennale von Valencia eure Herangehensweise veraendert? GN: Die Arbeit wurde zu einer ecriture automatique ausgebaut, die hier nicht surreal, sondern hyperreal ist. Es ist ein Projektionsraum mit offener Choreographie, die BesucherInnen wurden visuell als skulpturale Elemente integriert. Beim Passieren der Installation zeichneten sich die Kurven im Raum, an der Wand und auf den BesucherInnen ab, die Automatismen der unsichtbaren Datenströme wurden auch dort sichtbar, wo sie sich sozial verankern, auf den Menschen. Es ist sozusagen *action painting in Echtzeit*, Freiheit und Befreiung der Datenströme auf Kosten der Individuen. DB: Du hattest deine eigene Firma im Überschneidungsbereich Wirtschaft und Kunst. Was bedeutet Geld für dich? GN: Ich finde interessant, dass du bei Firma gleich auf das Geld hinrekurrierst. Grund die Firma zu gründen war, und die Frage, wie schafft man es alternativ zu Galerien oder Consultants, naemlich als Künstler mit spezifischen Projekten, den privaten Bereich zu öffnen? Wir haben einige Konzepte dazu ausgearbeitet. DB: Was bedeutet nun Geld für dich? GN: Geld ist genauso ein Material wie alles andere, es ist Material schlechthin, gerade weil es immateriell ist. Es ist auch Kunstmaterial. Geld spiegelt über seine Tauschhandlung und seine Bedeutung heutzutage soziale Prozesse wieder. Geld funktioniert als hochinteressantes abstraktes Modell für Befriedigungshaltungen von Menschen und auch von Systemen, von Machtstrukturen und deren Erhaltung. Es ist eines der Movens in unserer Zeit, das immer mehr verschwindet, aber nur im Sinne seiner Sichtbarkeit und Materialität. Es ist das große Narrativ der Vereinnahmung - in Form eines Selbstgesprächs, von dem sich alles andere abzuleiten hat - es will Original und Kopie, Material und Potenz in einem sein für unsere Zeit. DB: Was bedeutet Geld in Relation zum Kunstwert? GN: Der Kunstwert ist eine immer stärker ökonomisch abgeleitete Groeße, sozusagen ein Derivat des Handels, nicht der Kunst. Der boomende Kunstmarkt zeigt Luxus aus einer interessanten Sicht: Kreativität wird verlässlich, Kunst markttauglich, es wird immer mehr Geld kreiert, das sich qualitativ hochwertig wandeln, also investiert werden muss. Ökonomie wandelt da die Kunst, nicht umgekehrt. DB: Und das Kapital? GN: Laeuft sich selbst hinterher. Da es sich für sich selbst interessiert, versucht es alles andere zu inhalieren. DB: Lass mich praezisieren. Ist Kunst gleich Kapital wie Beuys 1979 handschriftlich auf mehreren Banknoten notiert hat? GN: Die Frage kann heute auch so gestellt werden: Ist Kapital gleich Kunst? Ich habe Broker getroffen, die sich als die wahren Künstler bezeichnet haben. Das zeigt, welche Bedeutung dem Bewegen von Kapital als kreativem Akt gegeben wird, welchen Stellenwert man sich zuschreibt. Auch im Scheitern, obwohl ich nicht das Gefuehl habe, dass da dann viel raus kommt. Hier gibt es noch Potential! Aber im Ernst, Kreativitaet ist ein Schlüsselwort heutigen Unternehmertums, wenn auch meist nur Ressourcennutzung angestrebt wird. Aber es gibt eine Annäherung. Wirtschaft ist Pop, popular culture ist ökonomisch, kreativ und konsumistisch. Im Web findet beides statt: Formen von Demokratisierung und Selbst-Ermächtigung von Individuen im Austausch ihrer Ideen, Produktionen und Handlungsvorschläge als auch Kommerzialisierung, und die Schaffung von Parallelwelten, die nur mehr wenig utopisches und alternatives Potential besitzen. DB: *plastic trade-off* (2006) ist ein gemeinsames Kunstprojekt mit Sylvia Eckermann, das globale Boersenmärkte und damit das zentrale Element der globalen Ökonomie in Form einer Licht-Skulptur und eines virtuellen Wissensraumes visualisiert. Wie kritisch seht ihr das umstrittenste und zugleich einflussreichste System des Kapitalismus? GN: Uns interessierte das komplexe System der Kommunikation im Vergleich und im Verhaeltnis zu dem, was man individuelle Stimmen - wobei das nicht allein Einzelpersonen betreffen muss - nennen könnte. Kommunikation hat eine wertfreie Konnotation, durch die sich Wert erst etabliert. Das laesst sich gerade an den in den letzten 30 Jahren immens gewachsenen globalen Finanzmärkten ablesen. Finanzmärkte funktionieren nach Shannons Darlegungen zur Signalkommunikation, wie andere Medien auch. Ich denke, dass der globale Kapitalismus, jedenfalls in seiner Ausformung der Finanzmärkte, weiterhin als eigenständiges Medium gesehen werden muss, das versucht ist, mit sich selbst zu kommunizieren. Eine Art affirmatives, semi-autistisches Medium mit allerdings enormen Auswirkungen auf soziale Systeme und Prozesse. Es ist auf sich selbst eingestimmt, kennt in sich selbst keine Stimme im Sinne eines Gespraechs, keine analogen Diskontinuitaeten, kein Rauschen, aus denen Verstaendigung entsteht. Die Verhandlung läuft digital als elektronische Handzeichen des Abtauschs, wobei es nicht darum geht, was gehandelt wird, sondern dass gehandelt wird. Ein autistisches Mantra, das ständig sein *...buywhatyousellwhatyoubuy...* abspult. Diese Entwertung, die oszillierende virtuelle Werte schafft, ist wesentlich beteiligt an einer gesellschaftlichen Entwicklung, die ich Selbst-Kolonialisierung nennen möchte. Kolonialisierung geht demnach auf anderer Ebene weiter, in Form eines Mikro- bzw. Nanokolonialismus, der Individuen dazu erzieht, sich staendig selbst zu erfinden, anzupassen, zu mobilisieren, zu entindividualisieren und neu zusammenzusetzen und dies als koloniale Strategien an sich selbst anzuwenden. Im Übrigen gibt es für mich auch eine Dichotomie zwischen Individuen und Personen. Im aktuellen Kapitalismus sind juristische Personen, also Kapitalgesellschaften, den Individuen weit überlegen. Die Ironie der Geschichte ist, dass dies ermöglicht wurde durch einen Zusatz zur US-amerikanischen Verfassung (14th Amendment), der eigentlich gedacht war, die Rechte und Möglichkeiten der ehemals versklavten schwarzen Bevölkerung zu entwickeln und zu sichern. Daraus wurde vergleichsweise wenig. DB: Ist die Marktwirtschaft ein akzeptables Wirtschaftssystem? Wofür steht der Begriff Markwirtschaft heute? GN: Marktwirtschaft ist ein relativ weiter Begriff, der von verschiedensten Schulen in bestimmte Richtungen zu draengen versucht wird, wobei das stark in den politischen Bereich hineingeht. Marktwirtschaft an sich bedeutet ja, dass es einen Austausch zwischen Menschen gibt und der Wert einer Sache innerhalb dieses Austausches nach Angebot und Nachfrage gefunden wird, was an sich ja nicht immer schlecht ist. Problematisch wird es dann, wenn es zu Ideologien führt und Markt als gesetzt gesehen wird, also etwa gesagt wird, Markt existiert an sich: wo immer Menschen zusammenkommen, passiert er. Das ist eine Ideologisierung von Marktwirtschaft, die das politische System verändern soll. Es hängt ja auch davon ab, in welchem Zusammenhang man das sieht. Die Marktwirtschaft Chinas laeuft anders als die der USA oder die Österreichs oder Deutschlands. DB: Wie gehst du mit dem Begriff der Macht in deinen Werken um? GN: Im Prinzip versuche ich diese in einer teils spielerischen Art und Weise zu usurpieren und das, was Macht darstellt, zu dekodieren, Wie zum Beispiel in dem Projekt *CEOs*, in dem die DarstellerInnen und SpielerInnen der Macht sich selbst praesentieren, so dass sich Macht selbst ad absurdum führt. DB: Wie siehst du das Verhaeltnis von Politik zu Wirtschaft? GN: Politik ist ein Teil der Wirtschaft, um es pointiert zu sagen. Ich würde den Begriff *Econociety* für die Situation vorschlagen, in der Gesellschaft, Individuen und Politik dem Paradigma ökonomischen Parameter unterworfen sind. Das ist auch in der Kunst deutlich zu sehen. Die Agora ist global und funktioniert über Wettbewerb. Demokratie wird als Konkurrenzveranstaltung definiert. Daran ändert auch eine Krise nichts, das macht ja gerade den Erfolg des *Westens* aus! Das Zoon Politikon mutiert da - um ein Szenario aus meiner Publikation *Yx* kurz anzudeuten - zum Derivat, der Mensch ist sein Wetteinsatz, seine Ressource in einer Zukunft, die im Jetzt gehandelt wird. Die Person ist als Option den Markt- und Wertschwankungen unterworfen, was einerseits den Heldenstatus des Entrepreneurs erklärt, Konzernen Macht verleiht, weil viele ihr Risiko streuen und versicheren, indem sie sozusagen Teil des Portfolios werden, andererseits hat man keinerlei Zugangscodes, wenn man sich nicht in das System einschreibt beziehungsweise nicht einschreiben kann. Als Mensch leitet man sich von etwas ab, es kommt darauf an, wie das machttechnisch genutzt und eingebettet wird. Der soziale Aspekt verliert total an Bedeutung, weil er sich darin auflöst. Er muss erneut erkaempft werden. Dies geschieht auch, es gibt Alternativen und Widerstand in vielfältiger Form, ueberall auf diesem Planeten. Es gibt viel Veränderungspotential, sehr viele Bewegungen und einen zeitgemäßen Umgang mit Medien. Das ganze vollzieht sich trotz der lokalen Priorität der Probleme auf globalem Niveau. Das ist ein Riesenthema, auch für Formen von Kunstproduktion! Ich glaube, wir in Europa können da vieles lernen, es geht hier ja überhaupt nicht mehr um solche *Teilterretorien*. Die Frage ist nur, inwieweit ein *partizipativer Kapitalismus* als Verquickung von Politik und Oekonomie in Zukunft genau diese Aspekte wieder in seine Verwertungslogik integrieren kann und wie er den Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte begegnet? Er lernt ja etwa durch Web 2.0 wie das gehen könnte. Es gibt Studien, die ersetzen die Menschrechte durch ein Kreditsystem - das mag heute weit her geholt klingen, aber da überschneiden sich plötzlich ökonomische, global-politische und philosophische Vorstellungen auf problematische Weise. Zusätzlich löst sich das System gerade von einigen Altlasten und wird wohl gestärkt aus der Krise hervorgehen, denn die Eingriffe, die heute durch die Politik getätigt werden, sollen es ja nicht durch ein anderes System ersetzten, sondern optimieren, an zukünftige Anforderungen anpassen. - Teil 2 -
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