Ich verfolge die Ereignisse in und um Hongkong aus privatem Interesse sehr 
genau. Auch wenn ich mir sicher bin, dass ich nur wenig verstehe und dass mir 
viele Details entgehen, möchte ich trotzdem zusammenstellen, was ich dort sehe:

Es ist vor allem nicht die Art von Gewalt, die die Weltpresse erwartet. Alles 
wartet auf Randale, auf prügelnde Polizeitruppen, auf Blut und Tränen. Die gibt 
es nicht in Hongkong. Dennoch ist das, was vor sich geht, für dortige 
Verhältnisse unglaublich brutal.

Die Ereignisse kurz zusammengefasst: Studierende der Universität Hongkong (HKU) 
und der Chinesischen Universität Hongkong (CUHK) setzen sich einfach auf die 
Straßen und beginnen eine Sitzblockade. http://j.mp/fight4hk (google maps) 
http://www.youtube.com/watch?v=Q919bQOThvM (ein Drohnenflug über einen der 
zentralen Protestbereiche) Zu Beginn des Semesters wehren sie sich gegen die 
Daumenschrauben, die China der in den Schoß der Volksrepublik zurückgekehrten 
Kronkolonie nach und nach anlegt. Dazu zählen unter anderem adaptierte 
Lehrpläne, die die am chinesischen Festland alle Ausbildung durchdringende 
Staatsdoktrin auch hier fest verankern soll. De facto hat Hongkong ja bereits 
1997 alles verloren - und China zeigt ohnedies bemerkenswerte Geduld mit der 
Sonderverwaltungszone. Aber jetzt wäre es laut Peking hoch an der Zeit, 
zumindest die Wahlvorschläge für die Wahl der Hongkonger Regierung zu 
bestimmen, um die Richtung in die es gehen soll nicht aus den Augen zu 
verlieren. Die Partei hält somit eine der Grundtugenden Chinas hoch: niemand 
kann so lange und hartnäckig warten wie Chinesen. Eine schier unglaubliche 
Leidensfähigkeit der Bevölkerung geht mit dieser Einstellung einher. Für uns 
die wir hier im Westen zivilisiert wurden liegt das außerhalb jeglicher 
Vorstellungskraft.

Nun kommen zwei Effekte zusammen: das von vielen Emporkömmlingen am 
chinesischen Festland zusammengeraffte Geld fließt über Hongkong ab - das 
treibt die Preise und für die Einwohner Hongkongs wird die eigene Stadt schön 
langsam unleistbar. Und: Für das Ausland ist Hongkong seit 1997 nicht mehr 
Großbritannien, sondern China - ein Schwellenland, kein Außenposten der 
britischen Krone. Die westliche Orientierung Hongkongs wird künstlich erodiert. 
Gerade der Teil der Jugend der das chinesische Leitbild nicht mittragen möchte 
fühlt sich aller Chancen beraubt - der Protest kommt also nicht von ungefähr.

Und er manifestiert sich in aller Höflichkeit und Ruhe. Es mag sein, dass es 
Proteste gibt, bei denen die Protestierenden selbst den Müll wegräumen. In 
Hongkong wird der Müll sogar getrennt. Es mag sein, dass sich Demonstrierende 
selbst mit Wasser und Lebensmittel versorgen. In Hongkong sorgen sie auch 
dafür, dass die Polizeitruppen mit beidem versorgt werden. Die Jugendlichen 
übernachten auf der Straße - bei 28 Grad in der Nacht kein Problem, lediglich 
der monsunartige Regen stört ein wenig. Die dagegen verwendeten Regenschirme 
wurden sofort zum Symbol der Bewegung. Daher "Umbrella Revolution". 
Mittlerweile werden sogar gelbe Regenschirme verteilt, als Ergänzung zu den 
yellow ribbons. http://tinyurl.com/lnfcwtm (von google translate übersetzter 
twitter newsfeed von @UmbrellaInfoCen). Die Proteste organisieren sich über 
wenige, aber sehr effektive Kanäle selbst. Etwa via google docs (Beispiel: 
http://tinyurl.com/nmycbps - google kann man in der Finanzmetropole nicht 
generell abschalten, ohne eine Katastrophe zu verursachen) oder über mesh 
networking apps wie firechat ( http://opengarden.com/firechat ), die ohne 
zentrale Infrastruktur über lokale direkte Verbindungen zwischen Handys 
funktionieren - und daher weder abhörbar noch störbar sind. Sich selbst 
organisierende dezentrale Sammelstationen für Sachspenden prüfen streng auf 
Originalverpackungen bei Lebensmitteln und auf illegale Gegenstände, um 
Probleme im Keim zu ersticken. Es ist so sicher, dass sogar Kinder die ganze 
Nacht auf der Straße sitzen - und dort ihre Hausübungen machen (das ist aber 
nur für uns aussergewöhnlich, denn normalerweise machen sie die Hausübungen bei 
McDonalds).

Wenn ich also nach Gewalt suche, muss ich nach sehr leisen Zwischentönen in 
diesem Pokerspiel suchen. Die Symbolik von Handlungen denke ich mir um einen 
Faktor 100 verstärkt, dann ist für mich ungefähr erahnbar, was sich da 
abspielt. Farben spielen übrigens auch eine große Rolle. Der Sprecher der 
Bewegung ist ein 17-jähriger redegewandter Student. Er fordert den ungeliebten 
Gouverneur Hongkongs zum Rücktritt auf. Ein Affront sondergleichen in einem 
Land, in dem Alter immer noch vor Fähigkeit geht. Der Gouverneur kontert damit, 
eine angekündigte Pressekonferenz um 17 Minuten zu spät zu beginnen. Das ist in 
Hongkong eine unglaubliche Keule, weil Pünktlichkeit ist außer Streit stehende 
Grundregel. Die weitere Durchführung der friedlichen Proteste über den Feiertag 
hinaus kommt somit bereits einer Kriegserklärung gleich. Aber auch der 
amtierende Gouverneur lässt sich ein Hintertürchen offen - er spricht in der 
Ich-Form. Vermutlich bekommt er von Peking unglaublichen Druck, daher tönt er 
"Ich werde die Reformen fortsetzen solange ich nicht zurückgetreten bin". Und 
Reformen bedeutet hier: Abschaffung der Demokratie in Hongkong.

Wenn nicht noch etwas passiert, sollten die Straßenproteste spätestens Montag 
wieder friedlich abebben. Weil Hongkong wird vom Geld regiert und das wird auch 
die Straße nicht ändern können. Heute Freitag ist bereits wieder ein Arbeitstag 
und die Beteiligung nimmt bereits ab. Aber es gärt gewaltig, dieses Feuer wird 
niemand mehr löschen können. Auch weil es von einer wichtigen Seite genährt 
wird: das Geld selbst spielt bei OccupyCentral eine Rolle. Ich bin ja der 
Meinung, man müsse Geld studieren wie einen Organismus. Geld hat Eigenschaften: 
es rinnt etwa zusammen wie Quecksilber. Und wenn genügend zusammengeronnen ist 
und sich in hohen Glastürmen verschanzt hat, tendiert es dazu sich eine 
Verwaltung zu schaffen, die diesen status quo erhält. Wer in China zu richtig 
viel Geld kommt transferiert es zunächst nach Hongkong - denn es ist dasselbe 
Land, aber es lockt mit zwei Systemen. Und somit gibt es (finanz-)kräftige 
Strömungen, die einer weiteren Aushöhlung der Hongkonger Autonomie mit aller 
Macht entgegentreten. Sie scheinen die wohlwollenden Befürworter im Hintergrund 
von OccupyCentral zu sein. Hongkong wird abwägen müssen - die derzeit 
unterbrochenen Touristenströme aus dem Mutterland haben den Absatz von 
Luxusgütern um bis zu 80% einbrechen lassen. Aber die Bevölkerung hat von 
diesen Geschäften ohnedies nur das Prestige. Beide Seiten brauchen einander - 
es muss sich eine Lösung finden. Und das Geld kann nur dann fließen, wenn es 
der Straßenverkehr auch tut - und da sieht es momentan eher übel aus für das 
ohnedies verkehrsgeplagte Hongkong. 

"Apple Daily Hongkong", ein regierungskritisches kleinformatiges Boulevardblatt 
aus Hongkong hat am 1. Oktober 2014, dem Jahrestag der Gründung der 
Volksrepublik China, mit einem ganzflächigen Foto der Regenschirmproteste und 
dem Titel: "Steht auf! Alle, die keine Sklaven mehr sein möchten!" aufgemacht - 
die beiden ersten Zeilen der chinesischen Nationalhymne. Aber auch in 
Österreich wissen wir spätestens seit Andreas Gabalier: es kommt bei einer 
Hymne darauf an, _wie_ man sie singt.

    fra
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