Brennende Stadt Ernst Jünger und Stendhal
Die vor kurzem in dieser Zeitung ausgetragene Kontroverse über die faktischen Hintergründe der berüchtigten Vision des brennenden Paris in den Kriegstagebüchern Ernst Jüngers (27. Mai 1944) wirft auch die Frage nach den ästhetischen Wurzeln solcher pseudoneronischer Bilder und Stimmungen auf: "Beim zweiten (Luftangriff), bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht." Der vordergründige, forcierte Zynismus dieser genußvollen Untergangsvorstellung geht in seinem assoziativ-bildhaften Vergleich, der auf dem Kunstgriff einer optischen Überblendung basiert, auf Metaphern des Symbolismus und gleichzeitig auf dessen schnoddrig-kühle Überwindung durch den frühen Benn zurück - in literarischer Hinsicht ist dies ein eher zweifelhaftes Konstrukt. Die langandauernde Faszination dieser Passage läßt sich am besten durch das offensichtliche Bestreben erklären, den Kriegsereignissen tagtraumartig einen Aspekt des Erhabenen abzugewinnen, was um so leichter fiel, als das im Krieg ja nicht zerstörte Paris nur ein allgemeines, symbolisches Katastrophenbild abgeben konnte. Vom unbedingten Willen zur literarischen Stilisierung zeigt auch die erst jetzt bekanntgewordene Tatsache, daß an dem von Jünger angegebenen Tag eben kein Bombenangriff auf Paris stattgefunden hat. Mehr als ein Jahrhundert davor hat ein größerer Schriftsteller, nämlich Stendhal, eine ähnliche Empfindung der ästhetischen Erhabenheit angesichts eines Stadtunterganges ausgedrückt. Im Gegensatz zu Jüngers Paris war der schreckliche Brand von Moskau im Oktober 1812 keine antizipierte, sondern eine reale Katastrophe. Stendhal beschreibt in seinem Brief an seine Schwester Pauline Périer-Lagrange (4. Oktober 1812), wie er und seine Gefährten die Stadt verließen, die "durch den denkbar schönsten Brand beleuchtet war, einen Brand, der eine riesige Pyramide schuf . . . die ihre Spitze im Himmel hatte. Über diesem Gebilde aus Flammen und Rauch sah man den Mond. Es war dies ein imposanter Anblick, aber um sich an ihm zu erfreuen, hätte man allein oder in Gesellschaft intelligenter Menschen sein sollen. Für mich krankt der ganze russische Feldzug am Umstand, daß ich ihn gezwungenermaßen mit Leuten absolvieren muß, für die das Kolosseum oder der Golf von Neapel nichts bedeuten." Die Stendhal-Forschung hat, fasziniert vom zynischen Ästhetizismus des Henri Beyle, den zwar etwas verklausulierten, doch letztlich dechiffrierbaren Hinweis übersehen: Stendhal vergleicht nämlich den Brand Moskaus mit den Ausbrüchen des Vesuvs und mit den im achtzehnten Jahrhundert eingeführten Illuminationen der Engelsburg und des Kolosseums durch Feuerwerke. Dabei weiß man, daß er 1811 bei seinem ersten Neapel-Besuch keinen Vesuvausbruch erlebt hat. Er wollte jedoch unbedingt Zeuge einer feurigen Eruption sein, und als der Vesuv bei seinem nächsten Neapel-Aufenthalt 1817 wiederum ruhig blieb, entschloß sich Stendhal kurzerhand, wie Jünger auch, zu einer kleinen Konfabulation und beschrieb in seinen "Voyages en Italie" einen "Vesuv in Flammen". Stendhals Beschreibung des Brandes von Moskau wiederholt aber das kompositionelle Schema eines gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts populären Genres der Landschaftsmalerei, das die dramatischen Ausbrüche des Vesuvs künstlerisch überhöhte und zum Inbegriff der Naturgewalt stilisierte. Der deutsche Maler und Freund Goethes Jakob Philipp Hackert, der Franzose Volaire und last, but not least der Engländer Joseph Wright of Derby hielten in zahllosen Gemälden das schrecklich-erhabene Schauspiel eines nächtlichen Vesuvausbruches inklusive Feuerpyramide und der blassen Mondscheibe fest. Hackert und Wright of Derby malten auch gleichzeitig als Pendants zu den neapolitanischen Ansichten die römischen Feuerwerke in einer Art und Weise, die an einen symbolischen Stadtbrand, ähnlich den Feuerpyramiden über dem Vesuv, denken ließ. Stendhal hat als Anhänger der Ästhetik des Erhabenen dieses ihm gut bekannte Kompositionsschema auf das Bild des brennenden Moskau übertragen. Im Tagebuch der Pariser Belagerung und der Kommunezeit (1870/1871) von Edmond de Goncourt finden wir schließlich unerwartet das fehlende Bindeglied zwischen Stendhal und Jünger. Am 24. Mai 1871 blickt Goncourt auf das brennende Paris der letzten Kämpfe der Pariser Kommune: "Den ganzen Tag betrachte ich durch die Lichtung von Bäumen den Brand von Paris: ein Brand, der im Dunkel der Nacht an jene neapolitanischen Aquarelle erinnert, die auf schwarzem Papier einen Ausbruch des Vesuvs darstellen." Der Vergleich mit dem Vesuvausbruch wird hier aber im betont nüchternen Ton vorgetragen und ist eher nur der antiquarischen Erudition geschuldet. Für den sensiblen Ästheten und Zivilisten Goncourt fungierten die Brände nicht als ästhetisch erhabene Katastrophenbilder - dazu hat er Paris zu sehr geliebt -, sondern in erster Linie als moralische Zeichen der Sühne für eine frivole und törichte Politik. Auch wenn solche Ideen beim gereiften Jünger und Stendhal manchmal anklingen, so werden sie doch unweigerlich von deren dandyhaftem Kriegerkult unter dem Zeichen erhabener Katastrophen verdrängt. Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2004, Nr. 173 / Seite N3