JUNGE FREIHEIT, Nr. 42/04 vom 08. Oktober 2004 Kultur (Aufmacher!), S. 23

Spurengeflechte entwirrt
Der dritte Band des "Luminar" eröffnet neue Perspektiven auf Ernst und 
Friedrich Georg Jünger
Alexander Pschera

Die systematische Auseinandersetzung mit Leben und Werk der Brüder Ernst und 
Friedrich Georg Jünger schreitet stetig voran. Ablesbar ist dies unter anderem 
daran, daß mittlerweile drei Publikationsreihen vorliegen, die sich 
ausschließlich der Erforschung des Jünger-Kosmos widmen.

In Frankreich, wo Ernst Jünger intensiver gelesen und studiert wird als in 
Deutschland, publiziert das Centre de Recherche et de Documentation Ernst 
Jünger mit Sitz in Montpellier die Reihe "Les Carnets", die von Danièle 
Beltran-Vidal betreut wird und mittlerweile bei Band 7 angekommen ist. In 
Deutschland veröffentlicht der Freundeskreis der Brüder Ernst und Friedrich 
Georg Jünger unter der Leitung von Günter Figal und Georg Knapp seit dem Jahre 
2001 die Reihe "Jünger-Studien", die die Referate des jährlichen 
Jünger-Symposiums in Wilflingen dokumentiert. Die Bände 1 ("Prognosen") und 2 
("Verwandtschaften") liegen bereits vor, Band 3 wird demnächst erscheinen.

Und schließlich gibt es die in der Edition Antaios aufgelegte und von Tobias 
Wimbauer edierte Reihe "Das Luminar - Schriften zu Ernst und Friedrich Georg 
Jünger". Die ersten beiden Bände zählen, jeder auf seine Art, jetzt schon zu 
den Meilensteinen der Jünger-Literatur. Wimbauers "Personenregister der 
Tagebücher Ernst Jüngers" muß an dieser Stelle nicht mehr eigens erwähnt 
werden. John Kings Dissertation "Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? - 
Writing and Rewriting the first world war" (bei der man sich nur fragt, warum 
der Untertitel nicht auch ins Deutsche übersetzt wurde) vergleicht erstmals die 
Original-WK1-Tagebücher Jüngers mit ihren späteren Be- und Umarbeitungen in den 
zahlreichen Auflagen der "Stahlgewitter" und kommt dabei zu erstaunlichen 
Ergebnissen.

Nun ist also der dritte Band des "Luminar" erschienen: "Anarch im Widerspruch - 
Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger". Konzept des über 300 
Seiten starken Sammelbandes ist es, Dokumente von Zeitzeugen, Nachdrucke schwer 
zugänglicher Texte und neue Studien miteinander zu kombinieren. Dieses 
"variatio delectat"-Prinzip führt dazu, daß man den Band ohne 
Ermüdungserscheinungen am Stück von vorne bis hinten lesen kann, was sich 
wahrlich nicht von jedem Sammelband sagen läßt.

Von den vierzehn Beiträgen beschäftigen sich leider nur zwei mit Friedrich 
Georg Jünger - eine Tendenz, die man im gesamten Jünger-Schrifttum beobachten 
kann: Friedrich Georg Jüngers "Besatzung 1945", der längste bislang 
unveröffentlichte Text des Autors, und Peter Bahns Schilderung der Begegnungen 
von Friedrich Georg Jünger und Friedrich Hielscher. Die Perspektive des 
Zeitzeugen eröffnen die Texte von Franz Schauwecker ("Ernst Jünger", erstmals 
erschienen 1926 in der Zeitschrift Stahlhelm ), Ludwig Alwens ("Gespräch im 
Botanischen Garten. Eine Unterredung mit Ernst Jünger", 1932) und Wilhelm 
Marquardt ("Als Gefechtsläufer bei Ernst Jünger im Sommer 1918", 1934).

Vor allem Alwens Beitrag transportiert trotz seiner Kürze einen sehr lebendigen 
Eindruck Ernst Jüngers aus der Zeit des "Arbeiters". Hier finden sich Bilder 
von der Unmittelbarkeit und Frische eines wiederentdeckten Filmdokuments: 
"Jünger ist kein sehr redseliger Mann. Er spricht seine Sätze nicht am 
laufenden Band, wie sie hier stehen, er ist, während er spricht oder schweigt, 
auch mit anderen Dingen beschäftigt, hebt eine Kastanie auf, um damit nach dem 
nächsten Baum zu zielen, oder er versucht neugierig eine ihm unbekannte Frucht, 
die offenbar bitter schmeckt, denn er spuckt sie wieder aus."

Neben diesen Annäherungen an die Person stehen drei gewichtige Begegnungen mit 
dem Werk Ernst Jüngers, die das Rückgrat und den Wert des Bandes darstellen. 
Hier ist nicht der Ort, diese Beiträge en detail zu kommentieren. Eine erste 
Einordnung sei allerdings bereits gewagt. Der Carl Schmitt-Forscher Piet 
Tommissen hat in einem fünfzigseitigen Beitrag Entstehungsgeschichte, 
Publikationsfolge, Verbreitung und Resonanz der "Friedensschrift" minutiös 
nachgezeichnet - sicherlich eine der komplexesten Aufgaben innerhalb der 
Jünger-Philologie.

Die Arbeit, vom Verfasser bescheiden als "Versuch" tituliert, geht weit über 
bisher Bekanntes, beispielsweise die Arbeiten von des Coudres und Loose, 
hinaus. Sie verfolgt und entwirrt das komplizierte Spurengeflecht und macht das 
Schicksal der vielzitierten Schrift lesbar. Dabei liest die Arbeit selbst sich 
spannend wie ein Kriminalroman. Tommissen weist am Ende seines Textes darauf 
hin, daß nun eine inhaltlich vergleichbar detaillierte Durchleuchtung der 
Friedensschrift notwendig wäre, gerade im Kontext späterer Jüngerscher 
Positionen, wie sie sich beispielsweise im "Weltstaat" artikulieren.

Von vergleichbarem Umfang ist Helmut Lethens Untersuchung "Jüngers Desaster im 
Kaukasus". Hier geht es um die Begegnung und Konfrontation von Jüngers Haltung 
mit dem Geschehen an der Ostfront. Lethens Text enthält zahlreiche interessante 
Anregungen, fordert aber auch vielfach zum Widerspruch heraus. Anregend ist der 
Verweis auf die Cappricio-Tradition im Zusammenhang mit Jüngers "Strahlungen" 
und ihrer Ästhetik des Schreckens, die Lethen recht ausführlich ausarbeitet. 
Ebenso überzeugt die Analyse der "Verschlüsselungsstrategien", die Jünger ein 
uneigentliches Sprechen zum Leser hin ermöglichen.

Allerdings zielt Lethens Untersuchung auch oder sogar primär darauf ab, Jüngers 
"Haltungen", sein Bemühen um "Fassung" und "Authentizität" im Rekurs auf 
Norbert Elias und seine Theorie der "Satisfaktionsgesellschaft" soziologisch zu 
relativieren und letztlich als überkommen, weil künstlich darzustellen. Damit 
treibt er einen Keil zwischen Werk und Autor, was einer Entschärfung 
gleichkommt und genau am Zentrum der Jüngerschen Identitätssuche vorbeizielt. 
Schade, aber dennoch lesenswert.

Tobias Wimbauer selbst steuert schließlich zu diesem Band seine ebenfalls 
fünfzig Seiten starke Studie zu der "Burgunderszene" aus Jüngers "Strahlungen" 
bei ("Kelche sind Körper. Der Hintergrund der Erdbeeren-in-Burgunder-Szene"). 
Auf den Leserbriefseiten der Frankfurter Allgemeinen wurde diese Arbeit und 
ihre zentrale These - die Burgunderszene sei fiktiv und verschlüsselt (JF 
18/04) - in den letzten Monaten bereits intensiv diskutiert. Man sollte nicht 
so weit gehen, die Fiktionalität der Szene als Beleg für ihre Unanstößigkeit 
(wenn sie denn überhaupt anstößig ist) zu nehmen und die ganze Diskussion um 
Jüngers Ästhetizismus als Scheinproblem zu entlarven.

Dies geht zu weit. Aber zweierlei hat Wimbauer mit viel Detailarbeit und 
Fingerspitzengefühl geleistet: Er hat erstens deutlich gemacht, wie 
feingliedrig motivisch verzweigt Jüngers Tagebücher sind und welche Bedeutungs 
- und Sinnebenen sich in ihnen eröffnen, wenn man den Allusionen einmal 
systematisch nachgeht. Hier steht die Jünger-Philologie noch ganz am Anfang. 
Und er hat zweitens gezeigt, daß sich ein genaueres Hinsehen bei Jünger allemal 
lohnt - selbst oder gerade dort, wo alles gesagt zu sein scheint. Dies sind 
gute Aussichten für die kommenden Bände des "Luminar".

Foto: Ernst und Friedrich Georg Jünger "Jede Besatzung unterliegt einem Gesetz 
der Anpassung, das wechselseitig wirkt" (F.G. Jünger)

Tobias Wimbauer (Hrsg.): Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben 
der Gebrüder Jünger. - Das Luminar: Schriften zu Ernst und Friedrich Georg 
Jünger, Band 3. Edition Antaios, Schnellroda 2004, brosch., 324 Seiten, 30 Euro.

Dr. Alexander Pschera ist Germanist und arbeitet zur Zeit an einer Neuausgabe 
der Rivarol-Dissertation von 1938.

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