literaturkritik.de 

Zwischen Empathie und Häme

Heinz Ludwig Arnold porträtiert die Dichter

Von Rainer Paasch-Beeck

Gefragt, an wen man beim Stichwort "Die Unvollendeten" unter Deutschlands
Nachkriegsautoren wohl denken würde, könnte man vielleicht Wolfgang Borchert
nennen, Johannes Bobrowski, unter den zuletzt verstorbenen Thomas Brasch,
unter den älteren sicher Franz Fühmann. Auf Friedrich Dürrenmatt und Erich
Maria Remarque würden wohl nur wenige kommen, und an Ernst Jünger als einen
"Unvollendeten" zu denken, dürfte nicht nur dem Rezensenten schwer fallen.
Gleichwohl hat Heinz Ludwig Arnold seine literarischen Porträts von zwölf so
unterschiedlichen Autoren wie Jünger, Remarque und - als jüngstem unter
ihnen - Hans Joachim Schädlich unter genau diesen Titel gestellt. Es sind
allesamt Texte, die in den letzten fünfzehn Jahren entstanden sind, die
meisten von ihnen als Rundfunkbeiträge, vor allem für den Südwestrundfunk.
Einige wurden bereits an anderer Stelle, z. T. sogar mehrfach gedruckt,
andere erscheinen hier erstmals. Man merkt den Texten an, dass sie einmal
für ein anderes Medium gedacht waren, dass ihr kommunikativer Sitz im Leben
ursprünglich ein anderer war. Deutlich, manchmal überdeutlich wird das an
den häufig ausufernden Zitaten, mit denen Arnold seine Porträts ausgestattet
hat. Mag das im Rundfunkvortrag die Porträts lebendig machen, mag es die
Autoren und ihre Arbeitsweise veranschaulichen helfen, so stört es doch den
Lesefluss bisweilen ganz erheblich - man könnte sogar sagen, es nervt
manchmal. Dies gilt umso mehr, wenn es sich vielfach nicht um solche
Textproben oder Kollegenurteile handelt, die an entlegenen Stellen
veröffentlicht wurden und so schwierig nachzuschlagen wären. Besonders
ausgeprägt ist dies im Porträt über Uwe Johnson zu beobachten: Zum Teil
seitenlange Auszüge aus seinen Romanen und Interviews lassen die Frage
aufkommen, wer hier stärker zu Wort kommt, der Porträtierte oder sein
Chronist. Ärgerlich wird es dann, wenn überlange Zitate aus dem den Band
einleitenden Porträt Ernst Jüngers nur einige Seiten später in der im
Übrigen sehr lesenswerten Beschreibung einer existenziellen Differenz
zwischen den so unterschiedlichen Autoren Remarque und Jünger ("Zerstört
oder gestählt") noch einmal auftauchen. Spätestens hier hätte man sich einen
hilfreichen Lektor gewünscht.

Die zwölf Porträts fallen in mehrfacher Hinsicht unterschiedlich aus. Die
Bandbreite reicht von einem knappen, neunseitigen Text über Rolf Hochhuth
bis hin zu dem längsten, der fast 50 Seiten umfasst. Es überrascht nicht,
dass dieser große Essay Ernst Jünger gewidmet ist, mit dem Arnold
bekanntlich eine besondere Beziehung verbindet, ist er doch als junger Mann
für einige Zeit Sekretär bei diesem Autor gewesen. Arnolds Beitrag ist
natürlich kenntnisreich und deshalb sehr hilfreich bei einer ersten oder
auch erneuten Annäherung an einen Autor, dessen Werk und Person die Debatte
auch Jahre nach seinem Tod polarisiert. Arnold konstatiert eine
"egozentrierte Literarisierung", die darüber hinaus immer wieder
ahistorische, wenn nicht sogar "geschichtsfälschende" Elemente aufweist. Der
schon angesprochene "Vergleich" mit Remarque unterstreicht diese noch
einmal. Am Ende eines Beitrags, der sich dankenswerterweise an dem
Vor-Urteil reibt, dass Remarque doch "bloß ein Trivialschriftsteller" sei,
steht das bittere Resümee, dass Ernst Jünger es gleich mit mehreren
Exponaten in das "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland"
geschafft hat, während Remarques Name dort nicht einmal genannt wird.

Rundfunkbeiträge sind häufig Auftrags- und damit auch Gelegenheitsarbeiten.
Manchen merkt man es an. Das gilt sicher für die Beiträge über Martin Walser
und vor allem Günter Grass. Das fakten- und zitatengesättigte Porträt des
berühmtesten Bodensee-Dichters gipfelt in der Erkenntnis, dass "Schreiben
für den Schriftsteller Walser also ein ständiger Prozess der
Selbstbehauptung gegen den Ansturm der Wirklichkeit" ist. Schreiben ist dann
auch Überlebenshilfe, schließlich "Notwehr". Am Ende klingt fast ein wenig
Verständnis bei Arnold für Walsers umstrittene Schmähschrift "Tod eines
Kritikers" durch, wenn er sie als dessen Antwort auf den jahrzehntelang
gespürten und durchlittenen "Überheblichkeitsgestus des Kritikers Marcel
Reich-Ranicki" interpretiert.

Man liest "Katz und Krebs", den Beitrag über Günter Grass, und wundert sich.
Ganz offensichtlich schreibt Arnold hier über einen Autor, dem er zwar für
die "Blechtrommel" den nötigen Respekt nicht versagen kann, den er aber im
Übrigen nicht mag. Dafür spricht die Freude, ja bisweilen die Häme, mit der
er genüsslich die Kritikerstimmen zitiert, die kein gutes Haar an den
späteren umfangreichen und nicht minder ambitionierten Romanen lassen. Da
bleibt es auch nicht aus, dass er selbst Grass' Sonette aus den 90er Jahren
"zum politischen Lamento" verkommen sieht und sie direkt auf dem "nun
gesamtdeutschen Bitterfelder Weg" wähnt. Wenn er ausgerechnet innerhalb des
Walser-Texts Grass als den "früh zum Monument erstarrten" beschreibt und am
Ende seines Grass-Verrisses nicht mehr der Autor, sondern der "weltweit
operierende Konzern" Grass steht, ist die Demontage dieses zweiten
bundesdeutschen Literaturnobelpreisträgers komplett. Da hilft dann auch
nicht mehr die gönnerhaft-ironische Bemerkung, dass sich dieser Konzern
"durch manch mäzenatische Stiftungen auch von seiner noblen Seite zeigt".

Eine Ausnahmestellung nimmt ein Text ein, der als Geburtstagsfeature
gesprochen und als Nachruf gesendet wurde. Beauftragt, einen Text zu
Friedrich Dürrenmatts Geburtstag zu sprechen, wurde Arnold unmittelbar nach
dessen Fertigstellung am 14. Dezember 1990 von dem Anruf überrascht, dass
Dürrenmatt soeben gestorben sei. Bemerkenswert ist dieser Text aber auch
deshalb, weil er durch die Nähe mehrerer langer und intensiver Begegnungen
und Gespräche geprägt ist. Arnold zeichnet hier ein warmes, mit Anekdoten
und vielen Flaschen guten Bordeaux geschmücktes Porträt eines Autors, dem er
auch als Mensch nahe gekommen ist. Gemeinsam mit anderen aus diesen
Begegnungen entstandenen Texten ergibt sich so auch ein interessanter
Einblick in die "Werkstatt" des Schweizer Autors, dessen Lektor Heinz Ludwig
Arnold bei seiner "zweiten Karriere" als Erzähler geworden ist.

Zu Beginn des "Beschreibung eines Beschreibers" überschriebenen Porträts Uwe
Johnsons langweilt man sich fast ein wenig. Zu oft hat man es schon gehört
und gelesen, dass Johnson "offensichtlich getrunken, wie immer viel
getrunken" hatte, als er in der Nacht auf den 23. Februar 1984 nicht einmal
fünfzigjährig starb. Wir wissen inzwischen alle, was für ein ödes Nest
Sheerness-on Sea war und haben gerade in den letzten Jahren immer wieder
lesen können, welch schwieriger Mensch Johnson wohl auch im Umgang mit
seinen Freunden gewesen ist. Nichts Neues also, was Arnold hier zu bieten
hat. Auch er beteiligt sich - angenehm unaufgeregt - an den Spekulationen
über Johnsons langjährige Schreibhemmung und dessen Haftbarmachung seiner
Ehefrau für dieselben. Arnold konstatiert hier eine "paranoide Vorstellung"
auf Seiten Johnsons und stellt dessen Schuldzuweisungen gegenüber seiner
Familie in Abrede. Wenig Neues hat er auch bei seinen von ellenlangen
Zitaten unterstützten Einordnungen der frühen Romane zu bieten.
Erwähnenswert ist hier, dass er ein neues Kapitel in der Forschung zu
Johnson zuerst veröffentlichtem Roman "Mutmassungen über Jakob" aufschlägt.
Im Gegensatz zum Roman, der an mehreren Stellen ausdrücklich den
Volksaufstand in Ungarn ("In Budapest sind Aufstände...") erwähnt, und der
gesamten Spezialliteratur zu diesem Roman liest Arnold Johnsons Roman
offenbar geo-allegorisch und sieht die Titelfigur, den Dispatcher Jakob Abs,
"nun bevorzugt die Züge mit den Soldaten aus den Garnisonen der DDR an die
polnische Grenze leiten, die den Volksaufstand in Polen niederschlagen
sollen." Die 'Jahrestage'", Johnsons opus magnum, kommen kurz, fast zu kurz
weg in diesem Porträt. Ganz am Ende erst erfolgt die vielleicht wichtigste
Beobachtung Arnolds. Obwohl die "Jahrestage" den Untertitel "Aus dem Leben
der Gesine Cresspahl" tragen, ist ihr Vater, Heinrich Cresspahl, doch "die
zentrale Person der 'Jahrestage'", wie Arnold mit Berechtigung festhält. Es
ist schade, dass er hier abbricht. Untermauert wird seine Einschätzung durch
Johnsons jäh unterbrochene Erzählprojekte. Er wollte die Familiengeschichte
der Cresspahls noch fortsetzen. Im Mittelpunkt hätte Heinrich Cresspahl,
"der die vier verschiedenen Gesellschaftssysteme der deutschen Geschichte im
20. Jahrhundert am eigenen Leib erfahren hat", gestanden. Johnson starb viel
zu früh und bleibt so einer der großen Unvollendeten.

Nachzutragen sind ein mit Empathie verfasstes Porträt des - einzigen -
Lyrikers Peter Rühmkorf sowie die Texte über Hans Henny Jahnn, Heinrich Böll
und Peter Weiss. Letzterer bietet eine glänzende Darstellung der je
unterschiedlichen Weiss-Rezeption in der BRD und DDR in den Zeiten der
ideologischen Blockbildung, die auch vor der Literatur nicht Halt gemacht
hat. 

Der Band versammelt zwölf zum Widerspruch einladende Schriftsteller-Porträts
von einem ihrer besten Kenner - was ihn trotz aller kritischen Anmerkungen
lesenswert macht. 


Heinz Ludwig Arnold: Von Unvollendeten. Literarische Porträts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
335 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN 3892448663 


Letzte Änderung: 13.12.2005 - 09:45:37
Erschienen am:13.12.2005
Lesungen: 20
© beim Autor und bei literaturkritik.de







___________________________________________________________
Telefonate ohne weitere Kosten vom PC zum PC: http://messenger.yahoo.de
_______________________________________________
Juenger-list mailing list
Juenger-list@juenger.org
http://www.pairlist.net/mailman/listinfo/juenger-list

Antwort per Email an