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10.05.2014 

Wie wir gelebt haben sollten

Die Energiewende steht erst am Anfang. Deindustrialisierung ist nicht das
Thema, wohl aber der Weg der Transformation

Von Susanne Ehlerding

Glaubt man der deutschen Industrie, wird ihr Untergang jetzt gerade noch
abgewendet. »Die Energiewende birgt das Risiko einer Deindustrialisierung«,
hatte es in den vergangenen Wochen im Zusammenhang mit der Reform des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), die derzeit im Parlament beraten wird,
immer wieder geheißen. Auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, aus dessen
Hause der industriefreundliche Gesetzentwurf stammt, führte das Wort im
Munde. Dabei führt der SPD-Vorsitzende gerne auf das Beispiel einer
Papierfabrik in Fulda an: Deren Stromkosten würden von 500 000 Euro auf
sieben Millionen pro Jahr steigen, habe er sich sagen lassen. Das würde
bedeuten, »dass das Unternehmen in die Insolvenz geht«.

Nun ist offenbar alles wieder gut, eine Abwanderung deutscher Unternehmen
ins Ausland und eine Pleitewelle sind nicht mehr zu befürchten. Die nach wie
vor üppigen Ausnahmen für energieintensive Unternehmen bei der EEG-Umlage
bleiben bestehen, dutzende Branchen können nach dem Einknicken der
EU-Kommission von der Ökostromabgabe weitgehend befreit bleiben. »Die
künftigen Regelungen sichern die Chancen, industrielle Arbeitsplätze in
Deutschland dauerhaft zu bewahren«, sagte der Präsident des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo.

Was er freilich nicht sagt: Durch die Energiewende profitieren deutsche
Unternehmen von einem Strompreis an der Leipziger Energiebörse, der für
Großkunden nicht einmal vier Cent pro Kilowattstunde beträgt. Dieser
Preisverfall ist das Verdienst der Erneuerbaren, weil sie als erste ins
Stromnetz eingespeist werden. Dadurch schieben sich alle weiteren Kraftwerke
in der Reihenfolge ihrer Brennstoffkosten nach hinten. Die Folge: Der
Börsenstrompreis fällt.

Die Klagen über eine drohende Deindustrialisierung zeigen sich in diesem
Licht als ein »Schreckgespenst, das politisch genutzt wird«, meint Klaus
Fichter, Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der
Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. »Strukturwandel hat immer damit zu
tun, dass sich Leute beschweren. Aber im Großen und Ganzen sehe ich die
Gefahr der Deindustrialisierung überhaupt nicht«, meint er. Zwar könne es im
Einzelfall Unternehmen geben, die massiv unter hohen Strompreisen leiden.
Das sind kleinere Betriebe, die einen hohen Stromkostenanteil haben, aber
nicht genug verbrauchen, um bisher unter die Ausnahmeregelung zu fallen.

Im Durchschnitt machen die Stromkosten ohnehin nur 2,1 Prozent der
Bruttowertschöpfung deutscher Unternehmen aus. Diese Zahl veröffentlichte
die Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer jüngst erschienenen Broschüre
»Energiewende 2.0. Aus der Nische zum Mainstream«. Die Deindustrialisierung
wird darin als »Legende« bezeichnet. Weitere Zahlen als Unterstützung für
diese Aussage: Der Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts sei so gut wie
zuletzt 2012, der deutsche Außenhandelsüberschuss habe 2013 nach
Berechnungen des gleichen Instituts 200 Milliarden Euro betragen. Kurzum:
»Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sucht weltweit ihresgleichen«, schreibt
der Autor der Broschüre, Gerd Rosenkranz.

»Manche sagen, es läuft auch wegen der Energiewende gut«, meint Rosenkranz.
Klaus Fichter bestätigt das: »In erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und
klimaangepassten Produkten steckt eine ungeheure Wettbewerbschance.«
Immerhin 380 000 Arbeitsplätze hingen 2012 direkt oder indirekt von den
Erneuerbaren ab, informiert das Bundesumweltministerium. Der Anteil der
Branche an der deutschen Wertschöpfung betrug zuletzt rund 25 Milliarden
Euro, hat das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin
berechnet.

»Handwerk, Maschinen- und Anlagenbau können sich als Gewinner der
Energiewende betrachten. Sie bedeutet, dass in erheblichem Umfang investiert
werden muss«, sagt Erik Gawel, Ökonom am Helmholtz-Zentrum für
Umweltforschung in Leipzig. »Branchen, die hier Leistungen erbringen, und
Handwerker, die Solaranlagen bauen oder Heizungen austauschen, sehen
geradezu einem Konjunkturprogramm entgegen.«

Auch in der wirtschaftlichen Strategie der EU sollen die Erneuerbaren eine
große Rolle spielen. Anfang des Jahres verabschiedete das Europaparlament
eine Entschließung, laut der nachhaltige Technologien zu fördern seien.
Diese verfügten nämlich über das Potenzial, die industrielle Basis der EU zu
erneuern und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Allerdings hat die große Transformation der Wirtschaft hin zu einer
kohlenstoffarmen Energieerzeugung und Produktion gerade erst begonnen, sagt
Helmholtz-Forscher Gawel. Bis 2050 soll der Kohlendioxidausstoß EU-weit dann
um mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 gesunken sein. Das Problem dabei: So
richtig es ist, die Emissionen zu reduzieren, so wenig hilft diese
Erkenntnis dabei, die Regeln für den Übergang zu schaffen, so Johannes
Meier, Geschäftsführer der European Climate Foundation. Er sieht ein Dilemma
zwischen den unbestrittenen langfristigen Vorteilen der Energiewende
einerseits und den kurzfristigen Kosten und Risiken für verschiedene
Industrien andererseits.

Wie genau der Übergang von der heutigen Wirtschaftsweise zur neuen,
kohlenstoffarmen geschehen soll, weiß heute noch niemand. Durchgerechnet hat
das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), dass eine
Umstellung auf 80 Prozent Erneuerbare bis 2050 möglich ist. Auch 100 Prozent
wären technisch machbar, aber sehr teuer, sagt ISE-Chef Eicke Weber. Für die
Umstellung auf 80 Prozent Erneuerbare veranschlagen die Wissenschaftler 200
bis 300 Milliarden Euro. Etwa die gleiche Summe werde allerdings beim Import
von fossilen Brennstoffen gespart.

Voraussetzung sind technische Fortschritte bei den Stromspeichern, eine gute
Steuerung von Angebot und Nachfrage beim Stromverbrauch, die Umstellung des
Verkehrs entweder auf (Öko-)Strom oder Wasserstoff, die europaweite
Vernetzung der Stromleitungen, die konsequente Nutzung von Abwärme und
natürlich mehr Energieeffizienz. Mit diesem Begriff ist nicht nur ein
besseres Ausnutzen von Energie gemeint, sondern auch ein echtes Einsparen.
Denn allzu oft werden Effizienzgewinne durch den sogenannten Rebound-Effekt
wieder zunichte gemacht: Das durch niedrigeren Verbrauch eingesparte Geld
wird an anderer Stelle wieder ausgegeben, sodass der Energieverbrauch summa
summarum nicht oder kaum sinkt. Zum Beispiel, wenn eine Energiesparlampe
dauerhaft brennt, weil sie so wenig Strom verbraucht.

Die Umstellung des Energiesystems ist ein riesiger Kraftakt. Allerdings wird
er nicht ausreichen, meint der Zukunftsforscher Harald Welzer. »Unser
Ressourcenverbrauch muss um den Faktor fünf sinken, sonst ist das Ende der
Sackgasse schnell erreicht«, sagte Welzer bei der Veranstaltung »Die
transformierte Stadt« in Berlin. Damit ist er einer der Fürsprecher von
Suffizienz, einem Konzept, das die Beschränkung des Rohstoff- und
Energieverbrauchs in den Mittelpunkt stellt. Forscher wie Welzer überlegen,
wie man »das herrschende Wohlstandsverständnis in seiner Bindung an
materielle Güter so verändern kann, dass eine die natürlichen
Lebensgrundlagen schonende Entwicklung in der Gesellschaft Wurzeln schlagen
kann«. So beschreibt es das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

Unter den Umweltökonomen stehen sich daher zwei Fraktionen gegenüber. Die
einen meinen, »Wohlstand ohne Wachstum« sei möglich. So lautet der Titel
eines Buchs von Tim Jackson, dem ehemaligen Umweltberater der britischen
Regierung. Andere wie der Grüne Ralf Fücks wollen »Intelligent wachsen«, so
der Titel seines Buchs. »Die Weltwirtschaft wird sich in den nächsten 20
Jahren verdoppeln. Suffizienz ist nicht die Antwort auf dieses Wachstum«,
sagt Fücks. »Grünes Wachstum gibt es nicht«, hält ihm der Oldenburger
Volkswirt Niko Paech entgegen.

Diese Debatten verdeutlichen, dass der gute alte Konsumverzicht in den
bürgerlichen Mainstream zurückgekommen ist. Im Gewand eines schicken
Minimalismus fand er Eingang in das Wochenblatt »Die Zeit« und gelangte auf
die Titelseite des »Spiegel«. Weniger Konsum bedeutet weniger Ballast und
oft auch weniger arbeiten müssen, so der Tenor. Das könnte ohnehin kommen,
wenn alle mitmachen, denn weniger Konsum bedeutet auch weniger Produktion
und weniger Arbeitsplätze, jedenfalls im heutigen System.

Die Zukunft dürfe man sich aber nicht als »hochskalierte Gegenwart«
vorstellen, sagt Harald Welzer. Transformationsprozesse könne man nicht
vorhersehen. »Wir täten aber gut daran, uns auf ein Weniger umzustellen«,
meint der Zukunftsforscher, sonst seien die zivilisatorischen
Errungenschaften in Gefahr, die mit dem beispiellosen Erfolg des
Kapitalismus einhergingen: Verdoppelung der Lebenserwartung, Bildung,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dann könnte es doch so kommen wie in der
düsteren Zukunftsvision, die der Cambridge-Professor Stephen Emmott in
seinem Buch »Zehn Milliarden« entwirft. Es schließt mit dem Satz: »Ich würde
meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.« Ob das nötig wird,
werden bestenfalls die Jüngeren von uns erleben.

Susanne Ehlerding ist freie Journalistin in Berlin mit den Schwerpunkten
Umwelt und Klimawandel. In ihrem Blog umspannen.de berichtet sie über neue
Technologien für die Energiewende.




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