der Freitag
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Ausgabe 21/2018 | 26.05.2018

Nach dem Luftholen

50 Jahre lang war ein überflüssiger Flughafen in Frankreich besetzt. Jetzt
rückt die Staatsmacht vor

MARINA ACHENBACH

Da ist noch freies Land, frei für Utopien! Weit im Westen Frankreichs
gelegen, groß wie ein Flughafen, der hier einst geplant war, Aéroport du
Grand Ouest, über 16 Quadratkilometer. Fruchtbares Land mit Wäldern, Wiesen,
Feuchtgebieten, das unter Beton verschwinden sollte, zwischen Nantes und der
Gemeinde Notre-Dame-des-Landes, es ist nicht weit bis zur Mündung der Loire
in den Atlantik. Es geht um einen vor 50 Jahren geplanten, überflüssigen und
seitdem umkämpften Flughafen - LA ZAD. Nicht zum ersten Mal rückt die
Staatsgewalt an, um Besetzer, die zu Bewohnern wurden, zu vertreiben, um das
Gebiet „zu räumen“. In diesem Jahr wieder: seit dem 9. April die geballte,
überdimensionierte Staatsgewalt, pausenlos Granaten mit Tränengas, dazu
gepanzerte Mannschaftswagen, Gendarmen mit hohen Schilden, die in langen
Reihen vorrücken und die Leute, die sich gegen die Schilde lehnen, bedrängen
und mit Reizgas aus Sprühdosen attackieren. Im Gefolge Bulldozer, hinter
ihnen am Boden die traurigen Trümmer der Wohnstätten, die im Lauf der Jahre
gebaut wurden.

Dabei ist der Flughafenbau abgesagt. Im Januar 2018 wurde das Ende des
Projekts besiegelt. Nach einer nochmaligen Prüfung hat die Regierung das
gesetzliche Mandat nicht verlängert. Einsicht. Andere Lösungen für den
Verkehr, die von Anfang an nahegelegen hätten, sind nun geplant: Die
Landebahn des Flughafens Nantes, der schon immer da war und funktionierte,
soll vergrößert, die Bahnlinie ausgebaut werden. Doch zugleich will die
Regierung „Normalität“ herstellen und den 50-jährigen Kampf wie eine lästige
Episode vergessen machen. Es leitet sie die latente Angst vor den
Alternativen zum System, vor deren Ausstrahlung. Kein solches Beispiel soll
gedeihen.

Spaltversuche

Der Botschaftssekretär am Pariser Platz in Berlin spricht nicht mehr mit
Jürgen Holzapfel, dem Überbringer der Protesterklärung des Europäischen
BürgerInnen Forums [1] (EBF/siehe Info), obwohl der den Besuch noch vor
einigen Tagen im Telefongespräch mit ihm angekündigt hat, bevor sie an die
Presse geht. Monsieur Tuchel kommt nicht herunter, um die Unterschriften von
50 deutschen Kollektiven entgegenzunehmen, sein Nein lässt er durch den
Diensthabenden im Foyer der französischen Botschaft mitteilen. Es ist
offenbar ein kategorisches Nein aus Paris.

Die Regierung, auch Präsident Macron, die konservativen Eliten wollen auf
administrativen Knopfdruck hin die alte Ordnung zurückholen, indem sie auf
dem umstrittenen Gelände wieder private Besitzverhältnisse einführen. Alles
wie immer unter der Drohung durch die einsatzbereite Gendarmerie.
Tatsächlich gibt es ein Angebot an die „Zadisten“, wie die neuen Bewohner
von LA ZAD inzwischen genannt werden: Sie dürften individuelle Anträge auf
Bewirtschaftung einer Parzelle stellen. Wird der Antrag genehmigt, kann die
Person bleiben. Die Zadisten wollen aber gerade das Gegenteil der
Privatisierung, sie wollen das Land für kollektive Bearbeitung nutzen. Doch
Anträge von Kollektiven nimmt der Staat nicht an, nur individuelle. Nach
langen Debatten haben die Zadisten beschlossen, dass etliche ihrer
agrarischen Projekte vorerst darauf eingehen. Aber wenn man glaubte, die
Gemeinschaften auf diese Weise zu trennen - in Besitzende und von ihnen
Abhängige -, so ging diese Rechnung des französischen Staates bisher nicht
auf. Die Jahrzehnte der Kämpfe haben nicht nur dieser Landschaft ein großes
Luftholen gebracht und sie verändert, sondern auch das Bewusstsein.

Das einstige Bauernland war vor 50 Jahren enteignet, den Eigentümern waren
Entschädigungen angeboten worden. Nicht alle akzeptierten, mit ihnen begann
der Protest. Naturschützer stellten sich ihnen zur Seite, um die ökologisch
wertvollen Feuchtgebiete zu bewahren, so wuchs diese Bewegung. Um die
Jahrtausendwende nahm das Flughafenprojekt Fahrt auf, von der Regierung
wurde es zum Bau ausgeschrieben, der multinationale Konzern Vinci erhielt
den Zuschlag. Da war schon das Jahr 2008 erreicht. Seitdem wurden die
staatlichen Versuche, sich gegen den Protest durchzusetzen, sehr viel
schärfer und öffentlich mehr beachtet. Nach einem „Klimacamp“ auf dem
Gelände im Jahr 2009 blieben die Besetzer und siedelten sich in Gruppen an.

ZAD ist übrigens das ursprüngliche Verwaltungskürzel, dessen Inhalt
verändert wurde in „zone à défendre“ - Zone, die zu verteidigen ist. In
diesen zehn Jahren haben sich Gruppen, Freunde, Paare und Einzelgänger in
verlassenen Bauernhäusern eingerichtet oder Hütten gebaut, aus vorgefundenen
oder irgendwo weggeworfenen Materialien, alten Fenstern und den
unverwüstlichen Holzpaletten, sie haben sich an Fantasie gegenseitig
überboten, Häuser auf Stelzen, in Bäumen, in Campingwagen, innen farbig
durch Tücher. Es gibt die ordentlichen Wohnstätten, die provisorischen und
die für die Dauer gebauten.

Sie haben ein Windrad zur Stromerzeugung errichtet, eine große Scheune für
Meetings, eine Bäckerei, vor allem haben sie kollektive Gemüsegärten
angelegt. Sie leben ganz und gar umweltbewusst, ohne Autos auf dem Gelände.
Das Wichtigste, sie leben selbstbestimmt, und das ganz im Bewusstsein der
Vielfalt: Bauern und Bäuerinnen, Naturschützer und politische Aktivisten
nicht nur aus Frankreich, sondern aus verschiedenen Ländern, auch aus
Deutschland, wohlwollende Anwohner, die als Zeugen der Demonstrationen und
Polizeieinsätze politisiert wurden, alle Generationen.

Mit ihren großen Unterschieden an Ideen und Biografien müssen sie sich
verständigen lernen. Es geht nicht ohne Zerreißproben ab. Sie müssen das
Gespräch üben, eine Kultur erfinden für Toleranz und auch für
Selbstbehauptung, einen Stil entwickeln, der sie zusammenleben lässt und
befähigt, gemeinsam zu handeln. Sie betrachten und erfahren sich als
„Forschungsstätte für neue Lebensweisen“, so heißt es, und als großes
Experiment.

Bestärkt werden sie von wachsender Solidarität. Es war November 2012, als
die Staatsmacht mit der „Operation Cäsar“ eine Räumung versuchte,
überfallartig mit 1.200 Gendarmen, die eine Woche lang LA ZAD berannten.
Dagegen sammelten sich 40.000 Demonstranten und beendeten die Belagerung.
Jetzt, in diesem April, rückten doppelt so viele Gendarmen an. Die Luft war
dicht von Tränengas erfüllt. Nach den ersten Tagen sammelten Leute die
Geschosshülsen ein und türmten sie auf, sie zählten 5.000. Die chemische
Zusammensetzung der Granaten bleibt geheim, ihr Gefahrenpotenzial ist
undurchsichtig.

In einem TV-Interview rechtfertigt Emmanuel Macron die Brutalität der
Räumung, die Frankreich zunehmend beunruhigt. Die Zadisten hätten Polizisten
verletzt, sagt der Präsident, obwohl er weiß, dass es sich vor allem um
Verletzungen handelt, die von den eigenen Granaten verursacht wurden. Macron
spricht von Steuergerechtigkeit, denn von LA ZAD sind keine Steuern zu
holen, und verliert dabei kein Wort über die Steuerflucht der Großkonzerne.
Und als sich der Präsident in die Enge getrieben fühlt, zieht er den
demagogischen Spruch aus der Tasche, er werde nun selbst ein alternatives
Projekt organisieren: im Wohnzimmer des Journalisten.

Unfreiwillig kommt Macron damit auf den Punkt, um den es geht: um die Räume,
die nicht nur therapeutische Inseln sind, sondern in denen wirklich andere,
von der Logik des Kapitals abweichende Erfahrungen gesammelt werden können.
Dieses einzigartige Gelände ist durch seine Geschichte zu einem solchen Raum
geworden. In der Erklärung des Europäischen BürgerInnen Forums wird betont,
dass die gemeinschaftlichen Formen des Lebens und Wirtschaftens anerkannt
werden müssten. Solche Formen entstehen immer wieder überall auf der Welt
aus der Not landloser Bauern, aber gerade in diesen Monaten werden sie wie
in einer konzertierten Aktion auch in Spanien und Mexiko mit ähnlichen
Methoden - individuelle Privatisierung und zugleich militärische Räumung -
bedroht.

Wer kennt nicht den Appell, ändere zuerst dich selbst, bevor du die Welt
verändern willst? Eine Reihenfolge ist da falsch gedacht, nur im
Zusammenspiel von Selbstreflexion und Handeln können die Prägungen der
Konkurrenzgesellschaft überwunden werden. Die Räume dafür sind selten und
werden so eilig und angstvoll beschnitten. Sie sind zu verteidigen vor
staatlichem Machtanspruch und Kontrollsucht. La zone à défendre.

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Netzwerk für Europa

Das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) [1] ist ein informeller Verbund in
EU-Staaten wie Frankreich, Deutschland und Spanien sowie über deren Grenzen
hinweg. Das Netzwerk rekrutiert sich aus Aktivisten, die in ihren Ländern
auf soziale Missstände und staatliche Repressionen aufmerksam machen, wo
andere wegschauen.

Durch Selbstorganisation und die Solidarität zwischen emanzipatorischen
Initiativen soll die „Utopie einer gerechten Welt“ vorangetrieben werden.
Ein Zielort für den Einsatz des EBF war nach 2000 Andalusien.

Gewerkschafter, Europaabgeordnete und Anwälte reisten seinerzeit auf
Initiative des Bürgerforums nach El Ejido. Sie sollten sich einen Eindruck
von den unzumutbaren Lebensbedingungen für 20.000 Arbeitsmigranten vorrangig
aus Marokko verschaffen, die in der Region auf Plantagen schufteten, um die
Agrarmärkte der EU mit Bohnen, Gurken, Tomaten, Zucchini und Melonen zu
versorgen. 

Lutz Herden

[1] www.forumcivique.org 


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Mika Latuschek
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