WirtschaftsWoche
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17.11.2016

"Digitalisierung führt zu noch mehr Umweltzerstörung"

Die Grünen sind längst keine Umweltpartei mehr und die Zerstörung der
Ressourcen droht sich noch zu beschleunigen. Friedrich Schmidt-Bleek, einst
Pionier des Umweltschutzes, über sein neues Buch "Die 10 Gebote der
Ökologie" [1][2]

von Ferdinand Knauß

WirtschaftsWoche: Herr Schmidt-Bleek, Sie blicken auf einige Jahrzehnte seit
der „ökologischen Revolution“ in den 1960ern zurück. Als Wissenschaftler, im
Umweltbundesamt, bei der OECD, als Gründer des Wuppertal Instituts. Ist die
Umweltschutzpolitik eine Erfolgsgeschichte?

Friedrich Schmidt-Bleek: In gewisser Weise natürlich. Ohne sie wären wir
heute noch schlimmer dran. Aber sie reicht eben nicht aus. Man hat die
eigentlich notwendige Wende zur Vorsorge völlig vergessen und bleibt im
alten Modus.

WirtschaftsWoche: Was heißt das?

Schmidt-Bleek: Das heißt, dass Umweltschutz überhaupt nur möglich war, wenn
wir zeigen konnten, dass die Umweltschäden unmittelbar auf die Gesundheit
des Menschen, auf seine Lebensaussichten wirkten. Solche Themen sind rasch
in der Presse und der Politik auf der Agenda. Ich war für das
Chemikaliengesetz verantwortlich. Wenn Sie mit Giften hantieren, haben Sie
ganz schnell alle Ohren. Dann wird oft auch viel Geld für Korrekturen
ausgegeben. Wir spielen nur Polizei: Wir sehen Schaumberge auf Flüssen und
verendete Fische und stellen das dann ab.

Es gab immer dann einen Ruck in der Umweltpolitik, wenn was schlimmes
passierte: Wie in Seveso oder Fukushima. Das war zu Anfang in den 1960er so
und ist auch heute noch so. Aber wenn man immer nur Problemen hinterher
rennt, kann man keine Nachhaltigkeit erreichen. Das ist keine
Zukunftspolitik. Wenn es um die Stabilität unserer Lebensgrundlagen geht,
sind die Menschen viel weniger aufmerksam, weil sie die Zusammenhänge nicht
sehen. Auch Politiker haben wenig Interesse daran. Würden sie solche Dinge
gründlich debattieren, würde sich schnell herausstellen, dass vieles, was
man heute in Politik, Wirtschaft, Militär macht, einfach nicht
zukunftsgerichtet ist.

WirtschaftsWoche: Aber wir spüren diese Störung der ökologischen Stabilität
bislang noch nicht am eigenen Leib.

Schmidt-Bleek: Der Klimawandel die erste wirklich großflächige Veränderung,
die auch erfahrbar wird. Die wirkt sich unübersehbar aus, direkt an den
Körpern vieler Menschen. Ich bin sicher, dass auch Donald Trump, der den
Klimawandel noch leugnet, in wenigen Jahren anders darüber reden wird. Die
Frage ist, wie lange sich die Menschheit leisten kann, erklärbare
Veränderungen zu verneinen.

GROSSE RESSOURCENWENDE STATT KLEINER ENERGIEWENDE

WirtschaftsWoche: Sie fordern eine grundlegende Änderung der Steuerpolitik,
nämlich nicht mehr die Arbeit, sondern den Ressourcenverbrauch zu besteuern,
um nicht nur eine kleine Energiewende, sondern eine grundlegende
Ressourcenwende zu vollziehen.

Schmidt-Bleek: Derzeit wird viel über eine „Industrie 4.0“ debattiert, die
eigentlich eine „Gesellschaft 4.0“ ist. Man schwärmt, wie toll die
Amerikaner das im Silicon Valley vormachen. Und Politiker fordern, die
Digitalisierung weiter voranzutreiben. Bildungsministerin Wanka will viele
Milliarden für Computer in Schulen ausgeben. Da sage ich: Stopp, fragt doch
erstmal, wieviel natürliche Ressourcen wir dafür brauchen. Die Technik und
die Intelligenz für die Digitalisierung haben wir, keine Frage.

Aber so wie die Digitalisierung heute läuft, führt sie zu einer noch
schnelleren Zerstörung unserer ökologischen Grundlagen. Einfach deshalb,
weil alles, was mit Informations- und Kommunikationstechnologie zu tun hat,
wahnsinnig ressourcenintensiv ist.

Wir haben am Wuppertal Institut schon 1996 festgestellt, dass eine einzige
Bank-Überweisung so viele Ressourcen verbraucht wie die Produktion von vier
Bierdosen. Die Zahlen stimmen heute sicher nicht mehr. Aber es gibt leider
keine neueren Studien. Die Herstellung von Computern basiert auf
Materialien, die sehr selten sind. Das bedingt große „Rucksäcke“, wie ich
das nenne: Große Mengen Natur müssen bewegt werden, um die Materialien
abzubauen. Ich bin kein Experte für den Bau von Computern, aber ich bin
überzeugt, dass man sie mit Hilfe der Chemie auch anders bauen könnte. Doch
dafür gibt es keinen politischen Druck. Solange die Ressourcen billig sind,
kümmert man sich nicht um ökologische Folgen. Darum muss der
Ressourcenverbrauch besteuert werden.

WirtschaftsWoche: In der Parteipolitik fordert das bislang niemand.

Schmidt-Bleek: Es gibt leider keine organisierte gesellschaftliche oder
politische Kraft, die wirklich sich erlaubt, über die nächsten 4 Jahre
hinaus zu denken. Aber das reicht heute nicht. Was kann man da tun? Ich weiß
es nicht. Vielleicht bleibt nur die Devise: Steter Tropfen höhlt den Stein.

WirtschaftsWoche: Wir haben nun in Deutschland eine besonders erfolgreiche
und teilweise auch mitregierende Grüne Partei. Aber zugleich hat man den
Eindruck, dass ökologische Fragen für die Grünen nicht mehr wirklich
bestimmend sind.

Schmidt-Bleek: Die Grünen sind keine wirkliche Umweltpartei mehr. Sie müssen
sich als allgemeine Volkpartei präsentieren und haben sich eingegliedert. Im
letzten Wahlprogramm der Grünen war nur auf drei Seiten von Ressourcen die
Rede.

WirtschaftsWoche: Wer vertritt stattdessen politisch das Interesse an
ökologischer Stabilität?

Schmidt-Bleek: Ich weiß es nicht. Keine Partei jedenfalls.

EINE WIRTSCHAFT, DIE NUTZEN SCHAFFT

WirtschaftsWoche: „Bio“, „Öko“ und „Grün“ - das sind sehr positiv belegte
Begriffe. Sie aber behaupten, dass vieles, was unter diesen Begriffen
politisch getan und produziert wird, „grüne Lügen“ seien. Und jetzt
formulieren Sie stattdessen „Die 10 Gebote der Ökologie“. Es sind vor allem
Gebote des Verzichts. Für Politiker, Unternehmer aber auch konsumierende
Bürger ist das nicht gerade eine frohe Botschaft.

Schmidt-Bleek: Es geht nicht um den Verzicht, sondern zu fragen, was unser
Leben wirklich ausmacht. Aber diese Diskussion findet noch nicht wirklich
statt. Es kommt darauf an, wie man das Ziel der Wirtschaft definiert. Wenn
man große Banken, große Konzerne und mehr Produkte zum Ziel macht, dann kann
man natürlich die Menschen nicht von ökologischen Zielen überzeugen. Das
bedeutet übrigens nicht „Wachstum“, sondern ökologischen Selbstmord. Aber
wenn man sich endlich klar machte, dass es eigentlich um den Nutzen gehen
sollte, den die Menschen vom Wirtschaften haben, sähe das anders aus.

Es geht doch eigentlich nicht um das Auto, die Waschmaschine oder das Paar
Schuhe selbst, sondern den Nutzen, den man daraus zieht. Der bedeutet
Wohlstand und Wohlbefinden. Dass man ein besseres Leben für sich und seine
Nachkommen will, ist nur menschlich. Aber wenn man nach dem Nutzen fragt,
zum Beispiel, sich sicher und schnell von A nach B zu bewegen, geht es nicht
mehr darum, mehr Autos zu produzieren. Die Kanzlerin schwört übrigens auch
in ihrem Eid nicht, den Besitz, sondern „den Nutzen des deutschen Volkes zu
mehren“.

WirtschaftsWoche: Es gibt grundsätzlich zwei Wege, die Welt zu verändern.
Den politischen von oben über die Mächtigen oder den kulturellen von unten
über die Bürger. Welcher ist aussichtsreicher, um die Ressourcenwende, die
Sie fordern, herbeizuführen?

Schmidt-Bleek: Lebten wir unter Katharina der Großen, würde ich sagen:
natürlich der von oben. Aber in einer Informationsgesellschaft kann das gar
nicht mehr funktionieren. Der Bundestag muss sich um Gott und die Welt
kümmern, um lauter angeblich wichtige Details. Es gibt im Bundestag
natürlich sehr kluge Leute, aber die kommen mit grundlegenden, ökologischen
Fragen nicht durch. Das wird abgeblockt. Also ich erwarte von denen nichts
mehr. Darum kann es keinen anderen Weg geben, als den Menschen in einfachen
Worten die Grundlagen unseres ökologischen Systems klar zu machen.

Wenn sie einsehen, dass sie von der Erde zu viel fordern und unsere
Lebensgrundlagen Tag für Tag zerstören, werden sie hoffentlich einsehen,
dass man das ändern muss. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Die
Zusammenhänge sind natürlich wissenschaftlich sehr kompliziert, aber die
Grundlagen des Problems sind einfach.

WirtschaftsWoche: Eine Ihrer zentralen Thesen ist, dass die Masse an
natürlichen Ressourcen, die für ein Produkt bewegt und denaturiert wird,
entscheidend ist für die zerstörerische Potenz eines Produkts. Also Sie
betonen die Quantität statt Qualität der Stoffe. Das widerspricht der
öffentlichen Wahrnehmung. Da regt man sich eher auf, wenn im Bier winzigste
Mengen Glyphosat nachweisbar sind.

Schmidt-Bleek: Solche Gifte werden eben wahrgenommen als Lebensbedrohung für
den Einzelnen - unmittelbar, direkt. Wenn ich jemandem sage: Dein Smartphone
ist eine ökologische Sauerei, denkt er sich: Na und, es funktioniert doch,
ist billig und schadet mir nicht. Die Leute wissen nicht, welche
Ressourcenzerstörung ihre Konsumgüter verursachen. Ich nenne das den
Rucksack: Im Schnitt haben Technikprodukte einen Rucksack von 30 zu 1. Für
ein Kilogramm Technik werden 30 Kilogramm natürliches Material vernutzt. Ein
aktuelles Smartphone hat einen Rucksack von 600 zu 1.

UNGEBREMSTER VERBRAUCH NATÜRLICHER RESSOURCEN

WirtschaftsWoche: Vor dem ungebremsten Verbrauch natürlicher Ressourcen
warnte der Club of Rome schon vor über 40 Jahren. Das Argument der Ökonomen
ist dagegen: Wenn es wirklich knapp wird mit den Ressourcen, warnen uns die
steigenden Preise rechtzeitig. Und dann wird uns schon etwas einfallen, sie
zu ersetzen. „Die Steinzeit ist nicht aus Mangel an Steinen zu Ende
gegangen“, sagte mal ein saudischer Öl-Minister.

Schmidt-Bleek: Ökonomen und Politiker beruhigen uns heute immer noch mit
demselben Argument wie in den 1970er Jahren: dass die Techniker und Chemiker
schließlich alles ersetzen könnten. Wenn Sie die Frage nach den
Lebensgrundlagen außer Acht lassen, ist das zutreffend. Ich bin Chemiker,
geben Sie mir Zeit, Geld und Energie und ich kann Ihnen aus jedem Dreck was
Essbares machen. Aber man kann die Frage nach den Lebensgrundlagen eben
nicht außer Acht lassen.

Auf einer Erde mit bald acht Milliarden Menschen machen wir mit unserer
fantastischen Technik und Wirtschaftsweise unsere ökologischen
Lebensgrundlagen schwächer und schwächer, zerstören das, von dem wir selbst
mit Haut und Haaren abhängen.

Technik kann das ökologische System nicht nachbauen. Es ist für immer
verloren. Wir sind auf einer Einbahnstraße in den Abgrund. Das kann noch 50,
100 oder vielleicht 300 Jahre gehen. Aber irgendwann ist Schluss. Trotzdem
hat das in der Öffentlichkeit keine Priorität. Auch nicht für die Kirchen.
Ich saß mit Präses Nikolaus Schneider im Zukunftsrat von
Nordrhein-Westfalen. Er hatte überhaupt kein Interesse an Nachhaltigkeit.
Schulunterricht für Mädchen in Afghanistan schien ihm wichtiger als die
Bewahrung der Schöpfung. Immerhin scheint Papst Franziskus die Bedeutung von
Nachhaltigkeit besser verstanden zu haben.

WirtschaftsWoche: Wenn wir schon bei der Religion sind. Sie nennen Ihr Buch
sicher nicht zufällig „Die 10 Gebote der Ökologie“. Die ursprünglichen Zehn
Gebote kommen - sofern man der Bibel glaubt - direkt von Gott. Brauchen
Gesellschaften möglicherweise eine über ihnen stehende transzendente
Autorität, die sie zur Einhaltung des rechten Maßes im Umgang mit der Natur
verpflichtet?

Schmidt-Bleek: Wenn es eine glaubhafte, machtvolle religiöse Instanz gäbe,
die das Richtige - wir reden jetzt nur von der Ökologie - wollte, dann wäre
das sicher für das Überleben der Menschheit wichtig. Ich will den Gedanken
an die Menschen bringen: Leute, es gibt nicht nur zehn Gebote für das
Wohlverhalten der Menschen untereinander - so wichtig das ist. Für das
Überleben der Menschheit ist das nur ein Teilaspekt. Ohne die enorme
Vielfalt der Tiere, Pflanzen und geologischen Verhältnisse wären wir
Menschen gar nicht da.

Dieses natürliche Gewebe hat uns als Art hervorgebracht und wir können nicht
ohne es überleben. Die Einhaltung der 10 Gebote, die Moses am Berg Sinai
empfing, schützt nicht vor dem ökologischen Tod der Menschheit. Wir müssen
den Rest der Welt erhalten. In unserem eigenen Interesse.

Auch unser Grundgesetz - eine wunderbare und hervorragende Verfassung -
bezieht sich nur auf die „Würde des Menschen“. Es gibt auch eine Würde des
Lebens. Die Demokratie - Gott erhalte sie uns - ist auf Bedingungen
gegründet, die mit den heutigen Problemen der Ressourcenzerstörung nichts
mehr zu tun haben. Die Politik ist vor allem mit der Sicherung des Friedens
befasst. Das ist sehr wichtig. Aber es gibt Fragen, die noch größer sind.

Prof. FRIEDRICH SCHMIDT-BLEEK ist der Pionier der Ressourcenwende und
Erfinder des Faktor-10-Konzeptes. Er ist Gründungs-Vizepräsident des
Wuppertal Institutes, arbeitete als Abteilungsleiter in der OECD und im
IIASA und ist außerdem Initiator des „World Resources Forum Davos“. 2001
wurde Schmidt-Bleek mit dem „Takeda World Environment Award“ ausgezeichnet.
Er ist Autor zahlreicher Bücher und Veröffentlichungen.

--

FRIEDRICH SCHMIDT-BLEEKS „10 GEBOTE DER ÖKOLOGIE“

1 Du sollst die Lebensräume aller Lebewesen achten.
2 Du sollst natürliche Ressourcen sparen.
3 Du sollst auf den ökologischen Rucksack achten.
4 Du sollst an die Natur denken, bevor du kaufst.
5 Du sollst nur besitzen, was du wirklich brauchst.
6 Du sollst um den Faktor 10 reduzieren.
7 Du sollst Abfall und Emissionen vermeiden.
8 Du sollst ökologisch essen.
9 Du sollst dich ökologisch fortbewegen.
10 Du sollst dich informieren.

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Friedrich Schmidt-Bleek:
Die 10 Gebote der Ökologie
Ludwig Verlag, München 2016
272 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 9783453280861

[1] http://www.ludwig-verlag.de/Buch/-/e502031.rhd
[2] http://www.buchhandel.de/buch/9783453280861
[3] http://books.google.de/books?id=m6c2DAAAQBAJ 




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