die tageszeitung
https://taz.de/Wie-dem-Autowahn-entkommen/!5718582/

* 19. 10. 2020

Wie dem Autowahn entkommen?

Unfälle als natürliche Todesursache

Noch schwerfälliger als unsere Körper hat die jahrzehntelange automobile 
Dressur unsere Köpfe gemacht. Verkehrswende ist Denkwende

ESSAY VON ALBRECHT SELGE

Die Hauptfigur meines ersten Romans wird, nachdem sie zweihundert Seiten lang 
durch die Stadt flaniert oder eher gestreunt ist, von einem Auto überfahren. 
Irgendwie muss man aus der Sache ja rauskommen, dachte ich mir damals, und da 
schien das einfach ein naheliegender Abbruch für einen außer Kontrolle 
geratenen Extremspaziergang: der Unfall als natürliche Todesursache [1] des 
Fußgängers in der Großstadt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Tja. Was einem so 'natürlich' erscheint. Neulich sprach ich eine Autofahrerin 
an, die ihr Fahrzeug auf einem dieser berüchtigten Fahrrad-"Schutzstreifen" 
geparkt hatte, um sich in die Lektüre ihres Smartphones zu vertiefen.

Ich war freundlich, denn meine Frau hat mich mit Recht dazu ermahnt, nicht 
immerzu auszurasten, und man freut sich hierzustadt ja sowieso, wenn Autofahrer 
ihre Handys immerhin nicht beim Abbiegen benutzen. Wie sie es fände, fragte ich 
also in aller Höflichkeit, wenn ihr Kind auf diesem Radstreifen führe und da 
ein Auto drauf parkte? Sodass ihr Kind gezwungen wäre, nach links auf jene Spur 
auszuweichen, auf der Autos gerne mal mit sechzig, siebzig Sachen heranbrettern?

Erschrocken schaute sie mich an. Und antwortete: Niemals wäre sie so 
verantwortungslos, ihr Kind in der Stadt radfahren zu lassen.

Es ist dasselbe Denkmuster, nach dem Eltern aus durchaus realem und ja sogar 
schönem Schutzinstinkt ihre Kinder im Auto bis vors Schultor karren: Elterntaxi 
statt Fahrrad oder Füße, weil Füße oder Fahrrad fürs Kind zu gefährlich wären - 
wegen der vielen Autos. Man muss gar nicht darüber spotten.

Jahrzehnte in der autogerechten Stadt

Wahrscheinlich ist zumindest einigen dieser Chauffiereltern das bizarre Paradox 
bewusst. Trotzdem scheint dieses Handeln alternativlos - 'natürlich'. Was 
willste machen? Die Stadt ist, wie sie ist.

Einige Jahrzehnte 'autogerechte Stadt' [2] haben eben nicht nur unsere 
Bewegungs-, sondern auch unsere Denk- und Fantasieapparate verrenkt. So wird 
dann auch das Überfahrenwerden zur natürlichen Todesursache.

Diese ganze gegenwärtige Stadt, die aufs Auto zugeschnitten ist und unser 
Denken und Fantasieren aufs Auto zuschneidet, scheint mir eine Art Hyper-Mythos 
des Alltags, wie Roland Barthes [3] ihn in seinen "Mythologies" von 1957 
definierte: Etwas zu einem konkreten historischen Zeitpunkt und aus konkreten 
Gründen Menschgemachtes wird zu einer Art unhintergehbarem Naturzustand 
umdefiniert und überhöht.

Reichsgaragenordnung von 1939

Wir haben diesen Mythos in Stein gehauen und in Beton gegossen, die Metropole 
als mythische Mega-Statue. Kommt man dann ins kontroverse Gespräch über 
mögliche Alternativen, landet man am Ende leicht bei der denkbar mickrigsten 
Schrumpfform des mythischen Denkens - etwa: 'Ja, wo soll man denn sonst parken?'

Und stöbert man nach den historischen Wurzeln des Autostadt-Denkens, stößt man 
am Ende zum Beispiel auf die 'Reichsgaragenordnung' von 1939, die Wohnen und 
Parken aneinanderschmiedete. "Die Förderung der Motorisierung ist das vom 
Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel", heißt es darin. Der Führer befahl, 
wir folgen bis heute. Mag die SPD auch untergehen, die deutsche 
Nationalsozialdemokratie lebt. Und sei es noch darin, dass wir uns wie 
motorisierte Werwölfe als letztes Volk der Erde einem Tempolimit auf unseren 
Autobahnen widersetzen.

Manchmal ist es befreiend, die Welt einen Moment lang durch die Augen eines 
Kindes zu betrachten. Vor ein paar Jahren stand ich mit meinem ältesten Sohn 
auf einer jener 'Mittelinseln', die die weise Vorsehung der Natur inmitten der 
fließenden Verkehrsströme hat auftauchen lassen, um die Chancen von Fußgängern 
zu erhöhen, heil rüberzukommen. Zweihundert Meter von Schloss Bellevue ist 
diese Insel gelegen, und wir hatten eine Weile Gelegenheit, die schöne Aussicht 
des vorüberströmenden motorisierten Verkehrs zu genießen.

Leichtigkeit und Flüssigkeit

Und mein Sohn (durchaus aller Vorsichtsregeln gewahr, die wir schon den 
kleinsten Kindern einbläuen, so wie unsere Urgroßmütter einst ihre Kleinen 
warnten, sich vor dem Säbelzahntiger zu hüten, wenn sie die Höhle verlassen), 
mein Sohn also sinnierte: Warum müssen eigentlich immer die Fußgänger warten, 
bis die Autos vorbei sind, und nicht umgekehrt?

Ein Mensch, der sich in gewisser Weise (obwohl Universitätsprofessor und 
Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste) den 
kindlichen Blick auf unsere Städte bewahrt hast, ist der Österreicher Hermann 
Knoflacher, ein Mann wie aus einer Zeit, in der das fantastische Denken noch 
geholfen hat, und vielleicht irgendwie der Roland Barthes des Verkehrsdenkens.

Barthes war fünfundzwanzig und die Reichsgaragenordnung ein Jahr alt, als 
Knoflacher in Kärnten geboren wurde. Heute ist er achtzig und beinah ein Mythos 
jenes Alltags, wie er sein könnte, wenn da nicht überall das private Automobil 
wäre - der personifizierte Möglichkeitssinn. Knoflacher erkennt noch in den 
schönsten Spielplätzen die Käfighaltung des Kindes und die Absicht der 
Straßenverkehrsordnung von 1934, der 'Leichtigkeit und Flüssigkeit' des 
motorisierten Verkehrs den Weg freizuräumen.

Das Auto als Virus

Das private Auto bezeichnet Knoflacher als ein "Virus", und natürlich kann man 
diese Krankheitsmetaphorik kritisch sehen. Andererseits hat es ja eine gewisse 
Plausibilität bei einem Verkehrsmittel, das zu derart vielen Toten, Verletzten 
und Kranken (durch Abgase, Lärm, Bewegungsmangel) führt.

Und in Verbindung mit der haarsträubend ineffizienten Verkehrsbilanz des 
Privatautos, das im Durchschnitt über 23 von 24 Stunden als Stehzeug den 
öffentlichen Raum verstopft und selbst in Bewegung meist nur einen einzigen 
Menschen sowie viel leeren Raum transportiert, darf man mutmaßen, dass eine 
solche Erfindung überhaupt nicht zugelassen würde, wenn sie denn erst heute 
gemacht würde und das dicke Ende bekannt wäre.

Knoflacher meint seine Virus-Metaphorik allerdings wörtlicher: "Das Auto ist in 
den tiefsten Ebenen des Stammhirns bei den Menschen verankert. Der Mensch sieht 
die Welt nicht mehr so, wie er sie gesehen hat, bevor es das Auto gab. Er sieht 
die Welt so, wie es das Auto haben möchte. Sonst würde es draußen nicht so 
ausschauen."

Die Welt durch die Windschutzscheibe

Und das entspricht im Grunde der Alltagserkenntnis, dass die Welt durch die 
Windschutzscheibe und aus dem Inneren eines gepanzerten Fahrzeugs anders 
aussieht als für den schutz- und scheibenlos Schauenden, der ungepanzert 
unterwegs ist. Denkt man dieses drastische Ungleichgewicht der sich bewegenden 
Körper in der Stadt weiter, erscheint einem der von sogenannten bürgerlichen 
Parteien und auch der naiven Polizei ständig ventilierte Hinweis auf 
"gegenseitige Rücksichtnahme" als Lösung aller Straßenverkehrs-Übel wie blanker 
Hohn.

Dass die Reichskarrenlobby für Deutschland das ist, was Amerika an seiner 
Waffenlobby hat, ist ja mittlerweile fast ein Allgemeinplatz. Diese Lobby 
regiert dreist überall hinein, aber ihr nahrhaftestes Futter ist unser starres 
mythisches Denken, das nicht davon ab will oder kann, dass die autogerechte 
Stadt und das dem Auto dienende Land naturgegebene Tatsachen wären, 
Göttergeschenke der Mobilitäts-Evolution.

Unsere körperlichen Erfahrungen vertiefen dieses Denken, nicht nur beim 
automobilisierten Menschen: Der Fußgänger und der Radfahrer sind sich ja stets 
bewusst, dass ihnen bei Fehlverhalten oder auch bloß Pech der Tod droht, so als 
surfte er in haiverseuchten Gewässern. Kann gutgehen, geht meistens gut, muss 
aber nicht.

Makroraumfresser Automobil

Darum hat er sich, so wie das Kind und seine Eltern auf dem Spielplatz, mit 
seiner strukturellen Käfighaltung abgefunden. Und für den eingehegten 
Passanten, der sich an seinen geschrumpften Lebensraum angepasst hat, ist es 
ein natürlicher Reflex, sich von einem Eindringling in seine übriggelassenen 
Mikroräume (etwa der notorischen Nervensäge Gehwegradler) stärker bedroht zu 
fühlen als von dem Makroraumfresser Automobil.

Noch schwerfälliger als unsere den tatsächlich 'natürlichen' Bewegungen 
entwöhnten Körper hat die jahrzehntelange automobile Dressur unsere Köpfe 
gemacht. Auch die haben natürliche Bewegungen verlernt. Verkehrswende muss sich 
darum beidem zuwenden - und zwar gleichzeitig, nicht nacheinander: dem 
ungerecht verteilten Verkehrsraum und den verquerten Denkräumen.

Sinnlos und sogar kontraproduktiv wäre es allerdings, wenn man nun einfach 
Pendler oder Autofahrer beschimpfte oder die Nummer Stadtzentrum gegen 
Peripherie, Stadt gegen Land spielte. Fight the game, not the player. Was einen 
dabei hoffnungsfroh stimmen könnte (trotz des hasenfüßigen Kleinmuts unserer 
verantwortlichen Politiker), ist eine auf Knoflacher zurückgehende 
Tiefengelassenheit: So wie die Menschen jahrzehntelang zur Autosucht dressiert 
wurden, können sie sich auch wieder umgewöhnen.

DER AUTOR

Albrecht Selge ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er hat vier Romane 
geschrieben: "wach" handelt vom Zu-Fuß-Gehen, "Die trunkene Fahrt" vom 
Autofahren, "Fliegen" vom Bahnfahren, und in "Beethovn" kommt auf der letzten 
Seite tatsächlich ein Radfahrer vor. Die ersten drei Romane sind im 
Rowohlt-Verlag, der vierte ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

[1] https://taz.de/Massnahmen-gegen-Raser/!5706859/
[2] https://taz.de/Ausstellung-zur-Hausbesetzer-Geschichte/!5715161/
[3] https://taz.de/Zum-100-Geburtstag-von-Roland-Barthes/!5250832/


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Ende der weitergeleiteten Nachricht. Alle Rechte bei den AutorInnen.
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitte ich zu entschuldigen!
Das gelegentliche Versenden von E-Mails durch mich ist eine rein private
und persönliche - und niemals berufliche oder wirtschaftliche - Tätigkeit.
Ich nutze Ihre E-Mail-Adresse für keine anderen Zwecke und speichere
keine weiteren Daten außer dem zugehörigen Namen/Organisation.
Ich gebe niemals Daten weiter und lösche auf jede Bitte sofort.
Adresse löschen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Mika Latuschek
greenho...@jpberlin.de

Twitter, RSS-Feed, Mailingliste*:
http://twitter.com/greenhouse_info
http://tinyurl.com/rssfeed-greenhouse
... und filtern ("atom", "meer", "wald", ...) mit www.feedrinse.com/tour
http://listen.jpberlin.de/mailman/listinfo/greenhouse-info

Hosted by the political provider JPBerlin of Heinlein-Support
www.jpberlin.de

* Datenschutz nach DSGVO bei JPBerlin:
www.heinlein-support.de/datenschutz




_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an