Galerie von Stahl |  Kruppstr. 12 |  Moabit
Opening: Mittwoch, 24. Mai 2006, 19:00
 
Urbaner Nomadismus
 
Zehn Studierende der Kunstakademie haben einen Berliner Laden okkupiert und
den Raum zu einer ambulanten Ausstellung umgenutzt. Sie zeigen ihre
künstlerischen Arbeiten, welche vor Ort entstanden sind und an ihre
Durchreise erinnern. Der kurze Aufenthalt, das Kulturvolumen der deutschen
Hauptstadt, die Fluktuation des Personals und das Prinzip der temporären
Installation beeinflussen die Kunst, die an dieser Stelle unbedingt
entstehen muss.
Die jungen Künstler aus dem Süden Deutschlands zeigen mit ihrem Support aus
Mexiko, dass der künstlerische Nomade seine Produktivkraft aus den
Destinationen der Reise gewinnt. Die Kunstmetropole Berlin wird zum
Freibeutermeer erklärt.
 
Enrico Bach, Kyra Beck, Tim Ernst, Christian Falkner, Hannah Göckler,
Natalie Ostermaier,
Viviana Rivera, David D. Sefami, Rebecca Thomas, Felix Toth
 
Mit einem Textbeitrag von:
Lukas & Sebastian Baden
 
kuratiert von Felix Toth
 
 
 
Durchzug. Eindringlinge. Freibeuter.
 
Der Unterschied zwischen Francis Drake besteht darin, dass man Brite ist
oder Spanier. Piraterie in staatlichem Auftrag. Abenteuer Weltumsegelung,
als es noch eins war.  Auf den Weltmeeren ist damals echtes Blut geflossen,
wir kennen nur Scheinamputationen und glatte Schnittstellen. Heutige
Freibeuter rauben sich die Zeichen fremder Territorien und Quartiere, nisten
in virtuellen Räumen. Künstler-Piraten verschieben die Signifikanten. Drake
ist Toth. Er sammelt die wilde Schar um sich und kapert das Symbol der
Ökonomie: einen Laden.
Milchige Scheiben brechen den Blick in den besetzten Raum. Nach kampfloser
Übernahme setzen sich die Eindringlinge fest und bauen Scheinbarrikaden. Sie
nutzen die Metropole als Insel. Um sie herum saust die JET-Society.
Die historischen Vorbilder: Propaganda der Tat, Sabotage der Börse,
Entführung eines Fischdampfers nach Russland, Skyjacker, Könige der
Luftschlösser.
Wir sind unendlich mobil, die Beschleunigung ist Weltende – der „homo
viator“ (nach Gabriel Marcel) segelt hart am Wind. Unsere Piraten wollen ihm
die Brise aus den Segeln nehmen. Streichen.
Die Bounty-Youth-Crew muss den globalen Nomaden inszenieren, Abschied vom
Dorfpunk nehmen. Drei Steine, eine Mauer, temporäre Häuser wie Zelte. Eine
Unterscheidung gibt es nur zwischen Front und Flüchtlingslager. Tun wir doch
so, als ob Kunst außerhalb von Kunst eine Bedeutung hätte. Geben wir den
Dingen ihre Bedeutung zurück.  Besetzung des Fluidum – Besetzung des Raumes
– die Nomaden der Gegenwart leben in Glashäusern. Längst hat die Sehnsucht
nach dem Exil die alten Mythen von Arcadien und Utopia überholt. Auf der
Suche nach dem Nicht- Ort, an dem wir endlich sein können, rasen wir voran.
Die Kunst ist das Perpetomobile der Exilsüchtigen. Sie sammeln
Gratis-Flugmeilen, rund um die Welt, hinweg über die echten Katastrophen,
die Toten werden Punkte, Marksteine eines Weges jenseits globaler Distanz.
Der Robin-Hood der Meere machte sich das Abenteuer zum Beruf, andere vor ihm
hatten die Routen entdeckt, auf denen nun Handelswege sich kreuzen. Handel
und Klauen fallen in eins. Apropros-piration. Der Pirat ist uns romantische
Ikone, die Welt liegt ihm zu Füßen, er bewegt sich in der wahren, schönen
und guten Flüssigkeit, in die wir auch eintauchen können, wenn die Show rum
ist. Selbst die Frauen braucht er nicht mehr zu erobern. Denn die Körper
prallen unweigerlich aufeinander. Früher kamen sie aus dem Osten, die
Skythen, die Vandalen, die Barbaren. Heute kommen die wilden Reiterhorden
aus unserem Innern. Affekte, Eskapismus, Sozialstress herrscht. Statt
intelligenter Paarung nur feuchtes Gehoppel. Virillio setzte sich über die
Differenzen hinweg: „Die Geschichte der Reiterei bleibt nicht ohne Wirkung
auf die der Gesellschaften; die großen Wanderungen, Überfälle, Menschenraube
hängen genauso mit der Geschichte der Fahrzeug-Archetypen zusammen wie die
Ausbeutung des Bodens; die Eroberung und die Besetzung der großen
territorialen Körper  unterscheiden sich kaum von denen der kleinen
animalischen Körper! Das Verlangen, die Lust und der Rausch beim Durchqueren
eines Kontinents gleichen denen bei der Penetration (beim Eindringen). Die
Beschleunigung geographischer Verbindungen seit knapp zwei Jahrhunderten
kann die körperlichen Verbindungen nicht unberührt gelassen haben.“
Die Intensität erreicht in der Neubesetzung immer akute Höhepunkte. Statt
Klimaerwärmung ist Kulturerwärmung mit Gästen angesagt. Kunst kann als
letzte Bastion die Zivilbevölkerung zum Leiden bringen oder davon erlösen.
Es kommt eben drauf an, wie man zu Francis Drake steht. Überall herrscht
Krieg, finden Eroberungen statt, Besetzungen, Eindrängungen. Aber über
Ver-Dichtung darf man nicht schreiben. Also last uns spielen gehen. Wo sind
die wahren Gaukler? Wer fährt uns mit vollen Segeln in den Sonnenuntergang?
Fertigmachen zum Entern!
 
Lukas & Sebastian Baden
[Ferenbalm-Gurbrü Station]
 

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