Flensburger Tageblatt
https://archive.is/ZGA1q/#/shz.de/deutschland-welt/-id31471252-amp.html

25. März 2021

Wissenschaftler im Interview 

Wie Umweltschutz uns vor neuen Pandemien bewahren könnte

Ökologe Josef Settele erklärt, was die Corona-Pandemie mit der Abholzung von
Wäldern zu tun hat

Flensburg/Halle | Josef Settele ist derzeit ein begehrter Mann. Unser
Interview passt gerade noch so rein an diesem Tag, danach wartet das nächste
Telefonat mit einer Journalistin dann eine Online-Talkrunde zur
Biodiversität der Zukunft. "Das war in den letzten 30 Jahren nicht immer
so", sagt der Umweltwissenschaftler und lacht. "Vor ein paar Jahren war ich
immer der Bekloppte, der mit Insekten rumhampelt. Heute kann ich mit dem
Taxifahrer über Insekten sprechen, das ist was völlig Neues!" Wir haben mit
ihm über das Virus-Potenzial der Natur, die Verantwortung im Großen und
Kleinen und chaotische Gärten gesprochen

Josef Settele ist Co-Vorsitzender des globalen Berichts des Weltrates für
Biodiversität und Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der
deutschen Bundesregierung.

VON MERLE BORNEMANN

Herr Settele, in ihrem Buch warnen Sie eindringlich und sagen: "So wie
bisher können wir nicht weitermachen mit unserem Planeten". Was läuft schief
bei uns?

Wir haben eine Entwicklung, die in vielen Bereichen zur Sorge Anlass gibt.
Dass der Klimawandel bei uns viel durcheinanderbringt, ist den meisten
mittlerweile klargeworden. Die Nahrungsmittelversorgung wird in einigen
Teilen der Erde knapp, hinzu kommt das Artensterben. Wir sind dabei, unsere
Ökosysteme vielerorts zu zerstören. Das ist ein großer Komplex, der
letztlich zu Phänomenen wie der aktuellen Pandemie führt. Die ist ja nicht
ganz neu - wir kennen bereits SARS, MERS, Ebola -, aber Corona betrifft uns
aktuell besonders stark und könnte dazu führen, uns wachzurütteln im
Hinblick auf das, was wir der Natur antun.

Was genau hat Corona mit der Abholzung von Wäldern zu tun?

Pandemien entstehen dadurch, dass Organismen oder Viren überspringen vom
Tier auf den Menschen. Führt das zu Erkrankungen, bezeichnet man diese als
Zoonosen. Dazu müssen sie natürlich erstmal im Tier vorhanden sein und sich
entsprechend innerhalb des Bestands ausbreiten können. Das ist vor allem
dann der Fall, wenn von einzelnen Arten große Mengen auf engem Raum leben,
wie etwa bei der Zerstörung von Wäldern, wenn bestimmte Arten übrig bleiben,
die sehr gut damit klarkommen. Aber auch bei der Tierhaltung durch Menschen.

Von den Zoonosen, die wir kennen, haben viele ihren Ursprung in Regionen,
die ursprünglich mal artenvielfältiger waren als sie es heute sind - etwa
Regenwälder. Wenn ich diese zerstöre, direkt durch Abholzung oder indirekt
durch Brand - hier ist die Verknüpfung zum Klimawandel -, fördere ich
bestimmte Arten, denen es dann besser geht als den anderen. Sie entwickeln
eine hohe Dichte und möglicherweise auch eine Vielfalt an Viren. Wenn dann
noch der Mensch mit ihnen in Kontakt kommt, ist das Risiko hoch, dass so
etwas überspringt. Das kann im Wald passieren oder eben auf Märkten, wo
Tiere den Menschen nahe gebracht werden. Das Risiko haben wir überall, auch
in der intensiven Landwirtschaft könnten Zoonosen entstehen.

Sie sagen: "Das Coronavirus ist harmlos gegen das, was da noch im Dschungel
auf uns wartet." Was wartet denn da noch?

Das wissen wir einfach nicht. Da mag noch einiges kommen, was gravierender
ist. Eine Ahnung kann man durch die aktuellen Mutanten des Corona-Virus
bekommen. In der Natur gibt es ein hohes Potential an Viren, 1,7 Millionen
gelten bislang als unentdeckt. Davon sind etwa eine halbe Million
theoretisch in der Lage, auf uns überzuspringen.

Ihr Buch verstehen Sie als "Weckruf für eine dringende Kurskorrektur".
Richtet sich dieser Appell vor allem an die Politik?

Politik wird dann aktiv, wenn sie von den kleinen Leuten dazu animiert wird.
Wir brauchen immer beides: Gesellschaft und Politik. Beides kann gut
zusammenlaufen. Viele gesetzliche Vorgaben sind von der Mehrheit akzeptiert
und werden eingehalten. Wenn es der Einzelne machen müsste oder wollte,
heißt es: Was kann ich allein denn bewirken? Das Phänomen wird damit
umgangen, dass wir Regeln finden, wo offensichtlich eine Mehrheit der
Meinung ist: Wenn es eine Mehrheit machen würde, wäre ich auch dabei. Das
Tragen von Masken ist dafür ein gutes Beispiel. Ähnliche Dinge kann ich mir
etwa in der Landwirtschaft vorstellen: Wenn wir willens sind, nachhaltige
Produkte entsprechend zu honorieren, also die wirklichen Kosten zu bezahlen,
ist es wichtig, dass sich auch auf politischer Seite dafür eingesetzt wird.
Momentan sind die Bio-Produkte teurer als die konventionell hergestellten.
Wenn man die Umweltwirkungen einbeziehen würde, müsste es genau andersrum
sein. Das kann ich aber nicht als Individuum auf die Reihe kriegen, da muss
man gesamtgesellschaftlich agieren.

Sie sind Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der deutschen
Bundesregierung. Klingt so, als könnten Sie an der großen Schraube drehen -
oder?

Ein bisschen kann ich mitdrehen, aber es dreht sich unwahrscheinlich zäh.
Wir haben ganz viele Räte, die ganz unterschiedlich stark gehört werden. Wir
sind ein Gremium, das aus Umweltsicht versucht, Optionen aufzuzeigen und
Empfehlungen zu geben. Mein Eindruck ist bislang: Da der Rat von der
gesamten Regierung berufen wird, und nicht etwa nur durch das
Umweltministerium, kann man da als Umweltweiser sicherlich deutlich mehr
Gehör finden als "nur" als Wissenschaftler oder Bürger.

Natürlich gibt es auch in der Regierung verschiedene Interessenlagen. Frau
Klöckner und Frau Schulze (Landwirtschafts- und Umweltministerin, Anm. d.
Red.) haben in der Kompatibilität noch viel Luft nach oben, um es vorsichtig
auszudrücken. Da sind viele kleine Königreiche, die alle ihre eigene
Klientel und Agenda haben.

Aus zahlreichen Studien geht die rasante Zerstörung intakter Natur hervor,
das Artensterben sorgt regelmäßig bei Erscheinen neuer Berichte für
öffentliches Entsetzen - trotzdem werden auch in Deutschland noch Wälder für
den Kohlebergbau abgeholzt oder Biotope müssen Autobahnen weichen. Wie kann
das sein?

Die Frage stelle ich mir auch und habe keine Antwort. Ich kann nur
feststellen, dass wir nach wie vor eine Straßenverkehrsplanung haben, die
allenfalls Ausgleichsmaßnahmen ergreift, die aber praktisch nie den Verlauf
einer Autobahn im Vergleich zur ursprünglichen Planung hat verändern müssen
aufgrund von Umweltfragen. Die Verkehrslobby ist immer noch sehr stark, das
Auto ist weiterhin Verkaufsschlager - da glaubt man dann irgendwie, auch
überall Autobahnen haben und dadurch einen riesigen Flächenverbrauch in Kauf
nehmen zu müssen. Perspektivisch wird gar nicht mehr der Bedarf für die
Straßen vorhanden sein, das hat die Pandemie ja gezeigt: Viele Wege sind gar
nicht nötig. Der Druck in dieser Richtung ist noch nicht groß genug. Als
Land sind wir da nicht besonders fortschrittlich.

Ohne die kleinen Leute geht es nicht - doch was können die im großen Ganzen
anrichten? Haben Sie ein paar Alltagstipps für einen nachhaltigen
Lebensstil?

Ich hatte neulich einen Termin mit Christine von Weizsäcker (Biologin und
Umwelt-Aktivistin, Anm. d. Red.), und die sagte: "Macht doch das, was euch
erstmal am leichtesten fällt." Dem kann ich mich nur anschließen. Man kann
die Beleuchtung bei Nacht nehmen, man kann den Garten nehmen. Es gibt keine
allgemeinen Prioritäten, sondern es kommt auf den Menschen an. Wenn ich
einen Garten habe, kann ich was erreichen. Jeder kann was erreichen im Sinne
von Engagement in der Gesellschaft - aber nicht jeder ist ein Kommunikator.
Es gibt ganz viele Möglichkeiten, was zu tun. Nicht alle verändern sofort
die Welt - aber wenn es viele machen, schon.

Wie sieht denn ihr Garten aus?

Ich bin ein Fan von Chaos. Das macht es auch viel leichter, Unordnung ist
viel leichter zu halten als Ordnung. Wenn einmal die Sperre im Kopf weg ist,
dass man diesen Golfrasen braucht, ein bisschen Chaos zulässt, ist es
eigentlich viel schöner, auch arbeitsmäßig. Aber das ist Einstellungssache.
Ich habe einen chaotischen Garten. Ich habe Nachbarn, die schauen gern in
meinen Garten. Die sagen: "Das ist schön bunt und hübsch, aber wir haben
lieber unseren ordentlichen Garten." Da ist also noch Arbeit zu leisten.

Ich dokumentiere übrigens von meinem Arbeitszimmer aus die Mahd-Zeitpunkte
der Stadt Halle im öffentlichen Grün. Jetzt sind es oft nur noch zwei bis
drei im Jahr, das ist ok. Eine Zeitlang waren das aber fünf bis sechs Mal.
Was soll das? Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, außer, man kann diese
vermeintliche Unordnung nicht aushalten.

ZUR PERSON: JOSEF SETTELE

Prof. Dr. Josef Settele erforschte schon als kleiner Junge in seiner Heimat,
dem Allgäu, Insekten und Würmer. Diese Passion machte er zum Beruf: Nach dem
Studium der Agrarbiologie in Hohenheim ging er ans Helmholtz-Zentrum für
Umweltforschung in Halle (Sachsen-Anhalt), wo er noch heute zur
Biodiversität forscht. Er ist Co-Vorsitzender des globalen Berichts des
Weltrates für Biodiversität und seit Juli 2020 Mitglied des
Sachverständigenrates für Umweltfragen der deutschen Bundesregierung. Der
59-Jährige hat vor einigen Monaten ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die
Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien: Warum wir dringend
handeln müssen". Darin werden das Artensterben, Klimawandel und Pandemien in
ihrem Zusammenhang erklärt.


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 

Ende der weitergeleiteten Nachricht. Alle Rechte bei den AutorInnen. 
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitte ich zu entschuldigen! 
Das gelegentliche Versenden von E-Mails durch mich ist eine rein private
und persönliche - und niemals berufliche oder wirtschaftliche - Tätigkeit.
Ich nutze Ihre E-Mail-Adresse für keine anderen Zwecke und speichere
keine weiteren Daten außer dem zugehörigen Namen/Organisation.
Ich gebe niemals Daten weiter und lösche auf jede Bitte sofort.
Adresse löschen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe 

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 

Mika Latuschek
greenho...@jpberlin.de

Twitter, RSS-Feed, Mailingliste*:
http://twitter.com/greenhouse_info
http://tinyurl.com/rssfeed-greenhouse
... und filtern ("atom", "meer", "wald", ...) mit www.feedrinse.com/tour
http://listen.jpberlin.de/mailman/listinfo/greenhouse-info

Hosted by the political provider JPBerlin of Heinlein-Support
www.jpberlin.de

* Datenschutz nach DSGVO bei JPBerlin:
www.heinlein-support.de/datenschutz




_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an