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JUNGE FREIHEIT, Nr. 18/06 vom 28. April 2006, S. 17 KULTUR

Wolfgang Saur: Jedes Buch eine Bibel, jedes Geschäft ein Gebet
Jüngers Lektüren, elfter Teil der JF-Serie: Ernst Jünger und Johann Georg 
Hamann einte der Wille, die Aufklärung zu überwinden


Gerhard Nebel, der in seinem Hamann-Buch (1973) ein Kapitel Ernst Jünger widmen 
sollte, urteilte
schon 1966 treffend über Hamann, deutsche Kultur und Jünger so: Den großen
Königsberger rühmt er als „Überwinder der Aufklärung und ihrer
Transzendenzlosigkeit, ihrer Plattheit“. Dann heißt es: „Die
deutsche Geistesgeschichte besteht in großartigen Unternehmungen, die
Aufklärung zu überwinden: Weimar, Königsberg, Münster, die Romantik, Hegel,
Schopenhauer, Hölderlin, Stefan George, Heidegger und Sie – und nun tut
die deutsche Linke, als wenn das alles nicht gewesen wäre.“


Welche Rolle spielte
Hamann in Jüngers Intellekt, wie kam die Berührung zustande? Wunderlich genug.
Jünger erzählt es selbst zu Ende seines Lebens, im fünften Band von
„Siebzig verweht“ (1997). Ein skurriler Kartoffelsackträger brachte
ihn einst in Leipzig zu dem Philosophen Hugo Fischer, in dessen Mansarde der
Autor der „Stahlgewitter” Hamanns „Brocken“ fand.
Dieser Zufall initiierte den lebenslangen Dialog, der sich durch Jüngers Werk
zieht, besiegelt durch das Wort von den speziellen „Anregern“ und
„Erweckern“, die „den Charakter formen, sich ihm einprägen:
Rimbaud als Dichter, Schopenhauer als Denker, Hamann als Magier“.


Jüngers Erneuerung vollzog sich in Hamanns Zeichen


Tatsächlich war dieser bereits 1929 im „Abenteuerlichen Herz“, das eine neue 
Epoche
öffnet, voll präsent. Hamann wurde ein wichtiger Führer zum „verborgenen
Charakter des metaphysischen Menschen“, „zum Absoluten“ hin.
Der junge Dichter entwickelte – jenseits von Materialismus und Idealismus
– eine originale Tiefenschau der Welt und mit ihr ein seltenes Idiom von
eigener Sprachmagie. Dem kleinen, kostbaren Band hat er ein Hamann-Zitat
vorangestellt: „Den Samen, von allem, was ich im Sinn habe, finde ich
allenthalben.“


Ein divinatorischer Geist steht also mit der ganzen Schöpfung im Rapport. 
Retrospektiv erscheint
das Buch von 1929 selbst als „Initialschrift“, die Elemente und
Samen des späteren Werkes trägt, so Michael Klett. Jüngers Erneuerung um 1930,
dann nach 1933 vollzog sich in Hamanns Zeichen, dessen Prinzip Goethe so
bestimmt: Alles was wir leisten, „muß aus sämtlichen vereinigten Kräften
hervorspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich“ – und Hegel
präzisiert: „Nun erklärt er sich gegen die Kantische Trennung der
Sinnlichkeit und des Verstandes, als welche Stämme der Erkenntnis aus einer
Wurzel entspringen.“


Diesen Anspruch hat Jünger, so Martin Meyers These, in Literatur umgesetzt – 
was uns auch
einen Schlüssel für das Beschweigen der deutschen Literarkritik einhändigt. Im
„Projekt der Moderne“ setzen Autonomie und Differenz sich in der
Selbstorganisation des Sozialsystems total durch. Erzeugt wird eine dynamische
Zentrifugalstruktur, die als unendliche Peripherie die potentielle Mitte
(theologisch Gott) verschluckt. Umgestülpt zur virtuellen „Umwelt“
des Systems, driftet jene uneinholbar ab. Ästhetisch bedeutet das die totale
Autonomie formaler Mittel: Kunst soll nur mehr „sich selber“
aussagen, die Relation zu komplementären Erkenntnisformen wie Philosophie oder
Mythos kappen, vor allem aber zur vermeintlichen „Wirklichkeit
selbst“. Quer zu diesem Autismus der „Rose“, die nichts als
„Rose“ sei, liegt nun Ernst Jüngers Werk: kein Autor seit Goethe
und Hegel von solchem Weltumfang – einem Schamanen gleich, der spielend
kosmische Räume durchzieht!


Als wäre Vernunft wirklich und Gott nur ein Begriff


Johann Georg Hamann (1730–1788), der „Magus des Nordens“, lebte und starb in
Königsberg, wo er zum Kritiker Kants und Freund Herders wurde. Seine Idee des
göttlichen Charakters von Natur und Geschichte hat durch Herder wesentlich
historisches Denken geprägt. 1758 kam es mit Kant zum Konflikt. Als geistlich
Erweckter entwickelte Hamann jetzt neuartige Gedanken über Glauben und
Aufklärung, die „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ (1759). Es werden
Züge einer Rationalitätskritik sichtbar, die persönliche Spontaneität und
Gottesbezug dem nivellierenden Verstandesdruck konfrontieren.


Hamann möchte sinnliche Erfahrung rehabilitieren und fordert gar, man müsse die 
Wahrheit
„aus der Erde herausgraben“. Gegen Systemzwang votiert er für
„Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle“ und gegen
Begriffskonstrukte für Erfahrung und Tradition als „beste Schule der
Evidenz“. Religion, Patriotismus, Liebe und Freundschaft preist er als
„Leuchttürme unseres Lebens“. Seine Zeit steht ihm kopf: Von der
Vernunft rede sie, als wäre „sie ein wirkliches Wesen und vom lieben
Gott, als wäre selbiger nichts als ein Begriff“. Grotesk, angesichts
menschlicher Angst. Die deutet er als metaphysisches Heimweh: „Diese
impertinente Unruhe, diese heilige Hypochondrie ist vielleicht das Feuer, womit
wir Opfertiere gesalzen und vor der Fäulnis des laufenden Säkuli bewahrt werden
müssen.“


„Typisch deutsch“ formulierte Hamann sein pietistisches Credo: In glatter
Umkehrung zur Aufklärung, die religiöse Tatsachen säkularisiert, werde ihm
jedes Buch zur Bibel und jedes Geschäft zum Gebet. Der Magus will Gott nicht
zur Welt, sondern diese zu jenem ziehen. Das schafft Konsequenzen für die
Erkenntnis, ihr Organ, für Subjekt und Erscheinung. In Differenz zu
vorkritischem, kantischem und radikalkonstruktivem Rationalismus „liegt
das Licht der Wahrheit im anschauenden Auge, die Offenbarung des Gegenstandes
geschieht durch einen unmittelbaren Akt (der) Empfänglichkeit“, der Blick
reicht ins Innere der Dinge, ist einziger Schlüssel der Erkenntnis. Solche
Intuition verlangt den spezifisch symbolischen Ausdruck. Hamann entwirft eine
Hieroglyphik als Reflex seiner Kosmologie: „Alle Werke Gottes sind
Zeichen und Ausdrücke seiner Eigenschaften; und so ist die ganze körperliche
Natur ein Ausdruck, ein Gleichnis der Geisterwelt. Alle endlichen Geschöpfe
sind nur imstande, die Wahrheit und das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu
sehen.“


Gemeint ist ein Korrespondenzmodell: die wandelbare Welt als Widerschein des 
Ewigen und der
Ideen. Des Dichters „schaffender Spiegel“ imaginiert Parabeln, in
denen das Sein sich seines Wesens „erinnert“. Solch
„organischer“ Symbolismus setzt der Moderne ein Kontrastmodell
entgegen.


Faszinierend zu sehen, wie Ernst Jünger sich vom nihilistischen Aktivismus des
„Arbeiters“ (1932) fortbewegt hat. Ergänzen will er ihn durch einen
zweiten Teil, der die dynamischen Prinzipien einer „ruhenden Ordnung von
höherem Rang“ unterstellt („Zweites Pariser Tagebuch“, 17.
März 1943). Die Technikschrift Friedrich Georg Jüngers zielt in diese Richtung:
„Das zeigt, daß wir doch wahre Brüder sind, im Geist noch
ungetrennt.“ Der Rückzug aus dem Zeitkampf führt zur apoliteia, zur
Kontemplation, platonischen Wesensschau, den Chiffren der Stille. Leben gelingt,
wenn wir ahnen, „was ewig in ihm eingebettet liegt. Unsere Freiheit liegt
in der Entdeckung des Vorgeformten – wir dringen im Schaffen zur
Schöpfung vor“. Diese Wendung von Geschichte zur Übergeschichte, vom
Werden zum Sein führt Ernst Jünger hin zur integralen Tradition.


In diesem Licht lassen Nähe und Abstand zu Hamann sich bestimmen: Bernhard 
Gajek erkannte den
gemeinsamen Topos in der „Koinzidenz der Gegensätze“, der höheren
Einheit, unterschied freilich: Hamann gehe es um ein „zu den Wurzeln dringendes
Christentum, Jünger um die Vergewisserung der Existenz“.


Desto erstaunlicher, wie weithin Hamann Jünger inspiriert hat: Sprachtheorie, 
Poetik und ästhetische
Reflexion, Naturbeobachtung, Surrealismus. Zu lesen war und bleibt der
nordische Magier schwierig. Sein kryptischer Stil: skurriles Barockidiom,
gespickt mit alt- und fremdsprachlichen Zitaten, krausen Neologismen, diversen
Anspielungen auf Zeitgenössisches und humoristischen Pirouetten, gehört zum
Wildwuchs deutscher Sprache. Trotz sybillinischer Dunkelheiten sah Jünger ihn
als schöpferisches Ereignis, schätzte Hamanns Wissen und Detailreichtum, seine
Ideen und Urteilskraft. Doch blieb dessen Lektüre „schwierig, weil beide
Fähigkeiten, ohne sich zu verzahnen, nebeneinander herlaufen“. Man müsse
von Grat zu Grat springen und brauche starke Eigenkombination.


Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts


Das freilich kam dem „Anarchisten des Herzens“, dem stereoskopischen Blick des 
surrealen
Auges und Traumdeuter der Archetypen entgegen. Wenn Hamann Wachsein und Schlaf
travestierte, führte Jünger den Gedanken fort: „Träume sind stärker als
das Tagesgeschehen. Sie sind Wirkliches schaffend und in ein tieferes
Bewußtsein eingebettet, das im Schlafenden erwacht. Sie sind dem Mythos und
seinen Gestalten näher als die Geschichte – so hat sie der Magus des
Nordens erkannt.“


Poetologisch führt
das über Homer auf die archaischen Rhapsoden zurück, für die Rhetorik und
dichterische Intuition noch eins war. Hier schließt sich für Jünger Hamanns
Poesiekonzept an: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen
Geschlechts: Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als
Bilder.“


So ist die Sprache kein sekundäres Organ der autonomen Vernunft, sondern 
schlechthin ursprünglich,
die Laute selbst ein „magischer Schlüssel“, die Fülle der Welt
aufzuschließen. Diese radikale Idee der Sprache als „Antipoesis“,
nicht gemacht, deren Buchstaben das Sein hören lassen, hat Jünger besonders an
Hamanns „Apologie“ fasziniert und in seinem „Lob der
Vokale“ (1934) weitergesponnen.


Eröffnen Sprache und Dichtung den Weg ins Elementare oder Göttliche, wird ein 
„mathematischer
Charakter“ von Literatur, deren Probleme teilbar sind und restlos
aufgehen, fraglich. Hier fasse man, so Jünger im am 17. Oktober 1943 im „Zweiten
Pariser Tagebuch“, die poetische Kraft nur halb; es bleibe immer
„ein Unteilbares zurück. Das ist der Unterschied zwischen Molière und
Shakespeare, zwischen Kant und Hamann, zwischen Ratio und Sprache, zwischen
Licht und Dunkelheit.“


Doch auch diese Polarität scheint noch verstandesschematisch befangen, denn am 
Ende gebe es doch Geister,
die „unteilbar und teilbar“ zugleich seien –also triadisch,
eine gegliederte Einheit.


Solch Denken ist synoptischer Natur, dem analytischen Sinn überlegen. Nur jenes 
entspricht für
Ernst Jünger dem „schaffenden Spiegel“ – gleicht doch die
„große Bahn des Geistes“ einer Kette des Aufstiegs, einem
„Gang durch Gärten“. Immer reicher, führen sie zur Klarheit:
Kristall, Kugel, Punkt führen zur Quelle: wie „Glieder des
Rosenkranzes“.


 


Wolfgang Saur studierte Germanistik, Philosophie, Neuere Geschichte
und Soziologie in Marburg und Eichstätt. Derzeit absolviert er in Berlin ein
Aufbaustudium Religionswissenschaft und ist als freier Publizist tätig. Zu
dieser Serie hat einen Beitrag über Ernst Jünger und Jacob Burkhardt (JF 3/06)
beigesteuert.


Außerdem sind im Rahmen dieser Reihe bisher Beiträge erschienen von Alexander 
Pschera über
Jünger und Hermann Löns (JF 5/05), Léon Bloy (JF 9/05), Franz Kafka (JF 14/05),
Aldous Huxley (JF 18/05), Otto Weininger (JF 28/05) und Friedrich Nietzsche (JF
10/06). Von Harald Harzheim stammen Beiträge über Maurice Barrès (JF 23/05) und
den Marquis de Sade (JF 37/05) und von Alexander Michajlovskij über Dostojewski
(JF 33/05).


Foto: Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895–1998) ein 
großer Leser. Mehr noch: Lektüre
stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein
Werk – von den „Stahlgewittern“ bis zu „Siebzig verweht
V“. Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch
zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt
also „Spuren-Lesen“. Diese JF-Serie versucht, einige Fährten
aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur
Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.


Foto: Denkmal Ernst Jüngers am Weiher in Wilflingen: Gestiftet vom 
Freundeskreis der Brüder Ernst
und Friedrich Georg Jünger, gefertigt von dem 1961 in Oberschwaben geborenen
Bildhauer Gerold Jäggle. Eingeweiht wurde die lebensgroße Bronze-Skulptur in
Anwesenheit der Witwe Lieselotte Jünger und des Künstlers am 9. April anläßlich
des diesjährigen Jünger-Symposions im Kloster Heiligkreuztal. (JF)


Foto: Johann Georg Hamann: Der Blick reicht ins Innere der Dinge


 


 


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