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"Das Geschäft mit den grünen Lügen wächst"
Interview mit der Autorin Kathrin Hartmann über das Greenwashing der
Industrie, die Bigotterie der Grünen und die falschen Versprechen der
E-Mobilität
KONKRET: Flächenverbrauch, Asphaltierung und Kfz-Neuzulassungen feiern
Rekorde, und die Grünen sind die Partei der Herzen. Widerspruch oder
logische Folge?
KATHRIN HARTMANN: Ich glaube, es ist eher eine logische Folge. Die
Grünen versprechen, es könne alles so bleiben, wie es ist. Sie wollen
grünes Wachstum, doch Kapitalismuskritik findet man kaum bei ihnen. Die
Grundlage grüner Politik ist das Versprechen, das System sei in Ordnung,
man müsse nur an Stellschrauben drehen und Auswüchse korrigieren. Solche
Versprechen sind für viele Wähler ungemein attraktiv. Natürlich kann man
auch in einem System Dinge grundsätzlich ändern. Doch wenn sich die
Grünen von den Verstaatlichungsanregungen Kevin Kühnerts derart vehement
distanzieren, dann ist das systemkonformer, als es sein müsste. Das
zeigte kürzlich eine Debatte zwischen dem griechischen Exfinanzminister
Yanis Varoufakis und dem Grünen-EU-Parlamentarier Sven Giegold: Giegold
wies den Vorschlag von Varoufakis zurück, einen "Green New Deal" für die
Europäische Zentralbank aufzulegen, also "grüne" Investitionen zu
fördern. Giegold erklärte, den deutschen Wählern sei dies nicht zu
vermitteln, es führe zum Anwachsen der AfD, was ja niemand wünschen
könne. Eine bemerkenswerte Argumentation, schließlich hatte Varoufakis'
Vorschlag auch eine soziale Komponente: Er hätte Geld aus dem
Finanzmarkt, wo sonst wild investiert wird, in Umweltschutz und gut
bezahlte Arbeitsplätze geleitet.
KONKRET: In Ihrem Buch "Die grüne Lüge" beschäftigen Sie sich mit den
Tricks der Industrie, etwa die Palmölproduktion als "nachhaltig" zu
etikettieren. Nehmen die Grünen-Wähler den Umweltschutz überhaupt ernst?
HARTMANN: Ganz bestimmt - insbesondere solche, die der Partei seit den
umweltbewegten Anfängen treu geblieben sind, oder Mitglieder an der
Basis. Aber dass die Grünen und ihre Wähler per se ressourcenschonend
leben, ist durch einige Studien widerlegt. Die Klientel schneidet in
diesem Punkt schlecht ab, zusammen mit den Zynikern von der FDP.
Die Grünen richten sich heute an ein wohlhabendes Milieu. Deshalb
stellen sie systematische Fragen nicht in den Mittelpunkt, etwa welche
Arbeit gesellschaftsrelevant, welche zerstörerisch ist. Alle
besserverdienenden Großstädter wissen, dass es nicht okay ist, übers
Wochenende nach Barcelona zu fliegen. Doch sie tun es, und gleichzeitig
kaufen sie im Unverpacktladen zehn Eier für 7,50 Euro. Tagsüber sitzen
sie womöglich in der Werbeagentur und bewerben weltzerstörerische
Produkte. Bei solch einer Lebensphilosophie braucht man entweder eine
Menge Zynismus, oder man setzt auf Ersatzhandlungen, um diese
Widersprüche zu überbrücken.
Andererseits sind viele grüne Politiker kritisch und engagiert, etwa der
EU-Abgeordnete Martin Häusling, der gegen die Beimischung von Palmöl zum
Treibstoff gekämpft hat. Auf Häuslings Betreiben hin hat die Europäische
Kommission dem Palmöl das Prädikat der "Nachhaltigkeit" entzogen. Der
entwicklungspolitische Grünen-Sprecher Uwe Kekeritz kennt die
entsetzlichen Zustände in den Textilfabriken von Bangladesch und den
Palmölplantagen in Indonesien, weil er sich das Grauen vor Ort anschaut
und entsprechend Forderungen stellt. Es gibt in der Partei Engagement
und fundiertes Wissen über die Zusammenhänge.
KONKRET: Den ungestörten Konsumismus "ethisch" aufzuladen erfordert
Erfindungsreichtum: Werden die Grünen-Wähler es nicht irgendwann leid,
Konsumquatsch wie Nespresso-Kapseln zu kaufen?
HARTMANN: Das glaube ich nicht, das Geschäft mit den grünen Lügen wächst
und gedeiht. Dabei ist hier die Umweltzerstörung leicht erkennbar. Für
die Kaffeekapseln von Nestlé wird ein rund 8.000 Tonnen schwerer
Aluminium-Müllberg erzeugt, wobei Aluminium zu den problematischsten
Rohstoffen gehört. Nicht allein belastet es in den Abbaugebieten in
Westafrika und Brasilien das Trinkwasser und überschwemmt als dreckiger
Rohschlamm ganze Landstriche, sondern dieser Schlamm vergiftet das
Grundwasser und zerstört die Lebensgrundlagen der Einheimischen.
Nestlé spricht von "nachhaltiger Aluproduktion", doch das ist genau so
ein Quatsch wie bei der Palmölproduktion: Auch da behaupten
Konsumgüterkonzerne wie Unilever, "nachhaltiges" Palmöl zu verwenden,
obwohl ihre Zulieferfirma nachgewiesenermaßen illegal abholzt oder
Zulieferfirmen großer Konzerne den Bauern und Indigenen ihr Land rauben,
um dort gigantische Monokulturen anzulegen und billige Lohnsklaven
einzusetzen. Dieses Geschäft lebt, wie viele Geschäfte in den Ländern
der Peripherie, von der Armut der lokalen Bevölkerung. Das wissen die
meisten Grünen-Wähler.
Die Ozeanmode verdeutlicht das noch besser: Kleider, die vorgeblich aus
Plastik bestehen, das aus den Meeren gefischt wurde, dienen als
Modestatement, das den Träger adelt. Ozeanmode ist kein Mittel, um die
Weltmeere von einer Viertelmillion Tonnen Plastik zu befreien. Vielmehr
verwendet die Branche immer mehr Kunststofffasern in Kleidungsstücken,
was die wachsende Produktion verbilligt. Die Kunststoffe landen als
Mikroplastik im Meer, wo man sie nie wieder herausbekommt, womit die
Ozeanjeans zum Meeresmüll von morgen wird.
Am Ende einer langen Kette der Zerstörung versuchen diese
Grünwäscher-Firmen, einzelne Auswirkungen zu korrigieren. Doch die
schädliche Produktion bleibt bestehen. Die Folgen werden externalisiert,
also in die Länder des Südens ausgelagert, wo die Rohstoffe und die
billigen Arbeitskräfte sind und wo der Großteil des Mülls landet. Die
katastrophale Textilproduktion lässt sich nur beseitigen, wenn
wesentlich weniger Kleider hergestellt werden. Das gilt für alle
Konsumgüter, auch für die Autobranche.
KONKRET: Da müssten sich die E-Autolobbyisten der Grünen schön
verbiegen. Schaffen sie es sogar, den SUV zum Öko-Auto zu etikettieren?
HARTMANN: Die Politik hat in den vergangen 20 Jahren nichts anderes
getan, als unter einem grünen Deckmäntelchen den Trend zu immer größeren
und dickeren Autos zu befeuern. 1998 war es der Autoindustrie gelungen,
die deutsche Regierung dazu zu bringen, statt einer verbindlichen
CO₂-Obergrenze der EU die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie
zu akzeptieren. Die scheiterte grandios, stattdessen manifestierte sich
der SUV-Trend.
Damals regierte in Deutschland Rotgrün. Vor drei Jahren hat Cem Özdemir
den damaligen Daimler-Chef Dieter Zetsche zum Grünen-Parteitag
eingeladen. Zetsche hielt einen Vortrag über Klimaschutz. Und Özdemir
lobte Daimler für seine "Arbeitsplatzbeschaffung". Unlängst habe ich mir
bei einer Veranstaltung den Unmut eines Abgeordneten der grünen
Landesregierung Baden-Württemberg eingefangen. Als ich sagte, man könne
über ein SUV-Verbot nachdenken, verteidigte der Grüne die Autoindustrie
so sehr, dass ich dachte, er wäre von der Union oder der FDP. Da frage
ich mich, wie ernst es den Grünen ist mit autofreien Innenstädten und
Verboten von Riesenautos. Dabei reden wir ja noch lange nicht von einem
Systemwechsel!
KONKRET: Und das E-Auto ist das "Methadon der fossilen Automobilität",
wie Sie Harald Welzer zitieren?
HARTMANN: Ja, schon. Kürzlich ergab eine Umfrage für den "Tagesspiegel",
dass nur eine Minderheit in Deutschland das Autofahren für den
Umweltschutz aufgeben würde. Diese Ignoranz schützt die Politik wie
Helikoptereltern ihr ungezogenes Kind. "Gar kein Auto" zu propagieren,
würde wohl für jede Partei das politische Abseits bedeuten.
Da kommt das E-Auto gelegen - vor allem, weil ja die Externalisierung
bestens funktioniert. Ein E-Auto braucht im Schnitt 60 Kilogramm mehr
Kupfer als ein Benziner oder Diesel und rund 50 Kilogramm mehr des
umweltschädlichen Aluminiums. Konfliktmineralien wie Wolfram und Tantal
werden in den Sensoren verbaut.
Es gibt weltweit nicht genügend Rohstoffe, um Hunderte Millionen Akkus
für Automobile herzustellen, es müssen neue Abbaugebiete erschlossen
werden. Was hierzulande an Abgasen hinten nicht mehr rauskommt, das
führt am anderen Ende der Welt zu Menschenrechtsverletzungen, Landraub
und Umweltzerstörung.
E-Mobilität kann einen sinnvollen Beitrag leisten - aber wenn einfach
alle herumfahrenden Autos durch E-Autos ersetzt werden, werden sich die
Probleme verschärfen. Es gibt bei Teilen der Grünen eine erschreckende
Technikverliebtheit, etwa wenn der grüne Bundestagsabgeordnete Matthias
Gastel diese bekloppten E-Roller flächendeckend auf die Straße bringen
will; oder Ralf Fücks: Der ehemalige Bremer Senator und grüne
Bundestagsabgeordnete hat ein Buch geschrieben mit dem Titel
"Intelligent wachsen: Die grüne Revolution". Ihn habe ich für mein Buch
interviewt, weil er dort eine erschreckende Verherrlichung von Technik
betreibt unter dem Motto: "Dem Menschen ist schon immer etwas
eingefallen." Als er noch im Vorstand der Grünen-nahen Böll-Stiftung
war, gab es dort eine gemeinsame Broschüre mit Airbus zum Thema
"nachhaltiges Fliegen". Bei solchen Aktionen werden Hoffnungen geweckt,
mit "grüner" Technik könne alles so bleiben, wie es ist.
Technikversprechen sind allerdings problematisch, weil man etwas in die
Zukunft verschiebt und keine Elemente der bestehenden kapitalistischen
Ordnung berührt. Immerhin gab es Kritik aus den Reihen der grünen Basis
- und gerade die Böll-Stiftung lehnt an anderer Stelle die Ideologie des
grünen Wachstums ab. Die Fundi-Realo-Gegensätze prägen die Partei bis heute.
KONKRET: Trotz der gravierenderen Externalisierung sind selbst hier die
Auswirkungen der Umweltzerstörung spürbar.
HARTMANN: Ja, die Biodiversität nimmt ab, es gibt mehr Monokulturen, das
Artensterben kann man beobachten, nicht nur beim Bienensterben und bei
der geringeren Menge an Insekten auf der Windschutzscheibe. Das
Grundwasser ist wegen des hohen Nitratgehalts aus der Massentierhaltung
gefährdet, es gibt Feinstaubbelastung, und der Klimawandel bewirkt
Ernteausfälle und Waldbrände. Das sind Themen der Grünen, doch sie
verbinden nicht die soziale mit der ökologischen Frage. Dass
Umweltschutz und Arbeitsplätze ständig gegeneinander ausgespielt werden,
verhindert die ökologische und soziale Transformation. Die halbherzigen
Grünen wollen die Reichen nicht behelligen, wollen der Autoindustrie
nicht an den Kragen und setzen lieber auf Marktinstrumente wie die
CO₂-Steuer. So überbrücken sie nicht allein den Widerspruch zwischen
Anspruch und Wirklichkeit. Sie schaffen es, ihn aufzulösen.
KONKRET: Und sie lösen ihn national auf Zitat von der Grünen-Homepage:
"Wir gestalten eine innovative Wirtschaft, die mit 'Öko - Made in
Germany' Produkte und Dienstleistungen für die Zukunft entwickelt und
jede Menge neue Arbeitsplätze schafft - in Deutschland und Europa."
Es war die Verbraucherministerin Renate Künast, die damals gesagt hat,
dass, wenn es keine Klimapolitik gibt, jeder selbst Klimaschutz machen
müsse. Das bedeutete die Entpolitisierung und Individualisierung von
Umweltschutz; die Appelle an die Freiwilligkeit der Industrie - das
wurde in der neoliberalen rotgrünen Ära zementiert. 2004 gründete Künast
zusammen mit der Lebensmittelindustrie, Sportclubs und
Kinderarzt-verbänden die Plattform für Ernährung und Bewegung. Letztere
sind ausgestiegen, weil sie sahen, dass es rein gar nichts bringt,
zusammen mit den Zuckerlobbyisten für gesunde Ernährung zu trommeln. Das
langjährige Bundestagsmitglied Matthias Berninger ging sogar als
Lobbyist zum Süßigkeiten-Hersteller Mars, jetzt ist er Cheflobbyist für
Glyphosat bei Bayer. Wenn die Grünen zu Recht der Ministerin Julia
Klöckner Lobbyismus vorwerfen, sollten sie dringend ihre eigene
Vergangenheit hinterfragen.
KONKRET: Die Anpassung zeigt sich bis in die Rhetorik. In der
Juli-Ausgabe der "Titanic" wird Frau Baerbock zitiert, wie sie in einem
kurzen Passus drei Sprachbilder aus der Autowelt verwendet ("Gas
geben"). Das Wort "Fahrrad" kommt im Wahlprogramm siebenmal vor, 63-mal
steht da "Auto". Andererseits sind die Grünen die einzigen, die sich für
Radwege einsetzen. Muss man als Radfahrer die Partei nicht unterstützen,
weil die anderen schlimmer sind?
HARTMANN: Viele wählen die Grünen als "kleineres Übel" und weil sie
sympathischer wirken als der Rest. Bei der Klima-, Flüchtlings- und
Agrarpolitik sind sie ja "besser", jedenfalls auf dem Papier: Das
Dienstwagenprivileg wollen sie kippen, in die Bahn investieren. Hingegen
haben wir bei den anderen Parteien solche Kandidaten wie Scheuer und
Dobrindt, die nichts auf die Reihe kriegen und den Autofahrern einen
Motorradführerschein aushändigen wollen. Da fasst sich doch jeder
denkende Mensch an den Kopf, so ist der Zulauf zu den Grünen
nachvollziehbar.
KONKRET: Dann könnte den Grünen nur eine außerparlamentarische
Opposition gefährlich werden?
HARTMANN: Für die jungen Leute, etwa die Fridays-for-Future-Bewegung,
sind die Grünen die einzige Partei, die Klimaschutz vorgeblich
vorantreibt. Das spielt eine große Rolle. Und die jungen Leute wissen ja
oft gar nicht, was die Grünen angerichtet haben - Stichwort:
Kosovokrieg, Agenda 2010.
Genau diese jungen Leute sind es, die die Politik und damit die Grünen
unter Druck setzen, sollte sich herausstellen, dass sie das Gegenteil
von dem tun, was sie versprochen haben. Deswegen setze ich auf die
Vernetzung sozialer Bewegungen, etwa bei Ende Gelände in Garzweiler und
im Hambacher Forst. Dort entsteht ein Bewusstsein von globalen
Zusammenhängen und der Rolle des Kapitalismus. Klar, es gibt
unpolitische Umweltschützer, aber wenn so viele Leute aus ganz Europa
zusammen demonstrieren, dann stimmt mich das optimistisch.
INTERVIEW: PETER KUSENBERG
Kathrin Hartmann: Die grüne Lüge. Weltrettung als profitables
Geschäftsmodell. Blessing, München 2018, 240 Seiten, 15 Euro
Dies.: Aus kontrolliertem Raubbau. Wie Politik und Wirtschaft das Klima
anheizen, Natur vernichten und Armut produzieren. Blessing, München
2015, 448 Seiten, 18,99 Euro
Dies.: Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der
Konsumgesellschaft. Blessing, München 2012, 416 Seiten, 18,95 Euro
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