Am 12 Oct 2004, um 10:56 hat RA Michael Seidlitz geschrieben: > http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/mein/18538/1.html
Interessanter Artikel, der wieder einmal zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung doch ist. Der Beitrag vermittelt darueber hinaus aber eine grundlegend falsche Vorstellungen davon, was man vor Gericht wie unter Beweis stellen kann. Deshalb moechte ich hier mal ein paar grundsaetzliche Dinge erlaeutern. Bezeichnend ist z.B. folgende Textpassage aus dem Artikel von Oliver Gassner: "Genau auf den politischen und den künstlerischen Aspekt sollte man, unter Hinzuziehen passender und glaubwürdiger Zeugen, in einer eventuellen Berufung Wert legen. Selbst ein wenig netzerfahrener Germanist kann auseinanderfummeln, was an FreedomFone satirisch ist. Ein Politikwissenschaftler oder ein Journalismusexperte könnte problemlos erläutern, dass in der odem.org-Dokumentation nicht "einfach so gelinkt" wird, sondern dass die Links, was das Gericht eben bezweifelte, in einem aufklärerischen Kontext stehen." Hierdurch wird der Eindruck erweckt, Alvar bzw. sein Verteidiger koennte mit einem Germanisten, Politikwissenschaftler oder Jorunalisten als Zeugen unter Beweis stellen, dass odem.org staatsbuergerliche Aufklaerung darstellt und FreedomFone Kunst. Das ist allerdings grundlegend falsch. Richtig ist demgegenueber, dass diese Fragen dem Zeugenbeweis von vornherein nicht zugaenglich sind. Das Stellen von unzulaessigen Beweisantraegen - wie von Oliver Gassner vorgeschlagen - dient dem Verfahren wohl kaum. Der Zeuge kann nur Geschehensablaeufe schildern, die Gegenstand seiner eigenen Wahrnehmung sind. Analysen, Bewertung von Umstaenden oder Schlussfolgerungen koennen nicht durch Zeugen erfolgen. Das ist grundsaetzlich die Aufgabe von Sachverstaendigen. Aber auch der Sachverstaendigenbeweis waere in diesem Falle ausgeschlossen, weil die staatsbuergerliche Aufklaerung und Berichterstattung sowie die Kunst Rechtsbegriffe sind, die den Vorschriften von § 130 Abs. 5, 86 Abs. 3 StGB entstammen. Rechtsfragen muss das Gericht aber selbst klären. Das ist seine originaere Aufgabe. Und genau hier liegt auch das Problem und der Knackpunkt. Das Gericht hat den Lebenssachverhalt nicht unter die gesetzlichen Vorschriften subsumiert. Warum dies so war, kann ich aufgrund der gaenzlichen Abwesenheit jedweder Argumentation in der muendlichen Urteilsbegruendung nur mutmassen. Bereits das blosse Ergebnis deutet aber relativ klar an, dass sich das Gericht nicht ausreichend damit auseinander gesetzt hat, wie die Rechtsbegriffe "staatsbuergerliche Aufklaerung", "Berichterstattung", "Kunst" und "Satire" auszulegen sind bzw. von der Rechtsprechung ausgelegt werden. Der Inhalt von odem.org und Fredomfone war jedenfalls in der Ermittlungsakte durch eine Vielzahl von Ausdrucken umfassend dokumentiert. Wir haben sogar noch eine Reihe eigener Ausdrucke hingeschickt und auf URL's hingewiesen, um die vorhandenen Luecken in der Akte zu schliessen. Wir haben insoweit auch im Zwischenverfahren das Gericht ausdruecklich ersucht, sich selbst ein Bild zu machen und sich odem.org online genau anzusehen. Wenn man den Content auf odem.org der sich nur mit den Sperrungsverfuegungen beschaeftigt, ausdruckt, dann hat man schnell ein paar hundert DIN A 4-Seiten vor sich. Es ist m.E. aufgrund dieses Umfangs gar nicht moeglich diesen Content in der muendlichen Verhandlung detailliert zu thematisieren. Auch eine Vorfuehrung - die das Gericht m.E. ohnehin nicht zugelassen haette - waere in wenigen Minuten wohl kaum in der Lage gewesen, den meinungs- und kunstrelevanten Kontext ausreichend zu beleuchten. Zur Beantwortung der Frage, ob § 86 Abs. 3 StGB erfuellt ist, muss aber gerade eine Betrachtung des Gesamtkontextes erfolgen. Es ist nicht moeglich den Inhalt von ein paar hundert HTML-Seiten in einer muendlichen Verhandlung darzustellen, wenn sich die andere Seite nicht vorher eingearbeitet und eingelesen hat. Eine solche muendliche Verhandlung - es handelt sich eben nicht um einen Fall einer Trunkenheitsfahrt oder eines Ladendienstahls, wie sie einer Amtsrichterin taeglich vorliegen - kann deshalb nur dann konstrutkiv verlaufen, wenn sich das Gericht gut vorbereitet hat und sich mit dem Akteninhalt und den aus allgemein zugaenglichen Quellen - dem Web! - verfuegbaren Informationen vertraut gemacht hat. Das war m.E. hier nicht der Fall. Der Artikel von Oliver Gassner ist letztlich auch in sich widerspruechlich. Einerseits geht er davon aus, dass die Richterin ueber ausreichend Netzkompetenz verfuegt, andererseits bemaengelt er, die Verteidigung haette in der muendlichen Verhandlung nicht genuegend Argumente fuer den meinungs- und kunstrelevanten Kontext von odem.org und Freedomfone geliefert. Das passt nicht zusammen. Wenn die Richterin ueber ausreichend Netzkompetenz verfuegt, dann hat sie sich sowohl online als auch ueber die Akte ausreichend mit den Inhalten von odem.org vertraut gemacht und braucht keine ergaenzenden Sachverhaltserlaeuterungen durch die Verteidigung. Dass der Staatsanwalt - wie von Oliver Gassner geschrieben - am Rande des Prozesses angekuendigt hat, Alvars Rechner zu beschlagnahmen, wage ich ebenfalls zu bezweifeln, zumal das von anderer Seite, die diese Aussage des Staatsanwalts ebenfalls gehoert hat, etwas anders geklungen hat. Aber auch da gab es offenbar unterschiedliche Wahrnehmungen. Witzig fand ich auch die Einleitung, wonach in Foren und Blogs das Urteil zumeist von Leuten kommentiert wird, die im Gerichtssaal nicht anwesend waren. Folg man dem hierzu gesetzten Link auf Google, kommt zuerst allerdings ein Link auf den Blog von RA Simon, der sehr wohl im Gerichtssaal war. ,-) Abschliessend bleibt festzuhalten, dass die Vorschlaege des Artikels, was in der muendlichen Verhandlung besser zu machen gewesen waere, z.T. schon prozessual unzulaessig gewesen waeren und insgesamt wenig durchdacht sind. Gruesse Thomas Stadler Thomas Stadler [EMAIL PROTECTED] http://www.internet-law.de _____________________________ Rechtsanwaelte Alavi Froesner Stadler Jahnstr. 11, 85356 Freising [EMAIL PROTECTED] http://www.afs-rechtsanwaelte.de -- To unsubscribe, e-mail: [EMAIL PROTECTED] For additional commands, e-mail: [EMAIL PROTECTED]