sich freuende Grüße rundum, Ihr / Euer tw


Text: F.A.Z., 09.08.2006, Nr. 183 / Seite N3

Kristallisation

Unter dem Datum des 27. Mai 1944 findet sich in Ernst Jüngers "Strahlungen - 
Das zweite Pariser Tagebuch" die sogenannte Burgunderszene, die immer wieder 
als Zeugnis der ästhetisierenden Kälte des Schriftstellers herangezogen wird. 
Es ist die Beschreibung eines abendlichen Blicks auf die Stadt Paris. Der 
Tagebucheintrag ist kurz: "Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des Raphael sah 
ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, 
während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Ihr Angriffsziel waren die 
Flußbrücken. Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten 
Maßnahmen deuten auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, 
hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die 
Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich 
einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war 
Schauspiel, war reine, vom Schmerz bejahte und erhöhte Macht."

Diese Szene müsse neu gelesen werden, hieß es vor einiger Zeit in einem Bericht 
dieser Zeitung über die Funde des Jünger-Philologen Tobias Wimbauer (F.A.Z. vom 
10. April 2004). Er hatte herausgefunden, daß es an diesem Abend keine 
alliierten Luftangriffe der beschriebenen Art gegeben hatte. Dadurch 
verselbständigten sich die erotischen Züge der Schilderung, und die Tatsache, 
daß Jünger damals eine Liebesaffäre mit einer jungen Frau hat, die im Tagebuch 
unter verschiedenen Namen - als Doctoresse, Camillea, Charmille, Mme 
d'Armenonville, Mme Daucart - vorkommt, legte die Deutung nahe, die 
Burgunderszene in das Szenario der Liebesaffäre einzufügen.

Der Tagebucheintrag scheint gleichsam seinen Platz im wirklichen Geschehen mit 
dem in einem mythisch überhöhten Privatraum zu vertauschen. Bei einem so 
abrupten Schauplatzwechsel sollte man berücksichtigen, daß Ernst Jünger sein 
Tagebuch, wenn er es zum Druck vorbereitete, nicht nur zu überarbeiten pflegte, 
sondern einzelne Eintragungen gelegentlich sogar versetzte und unter andere 
Daten brachte (F.A.Z., 16. Juni 2005), ein Vorgehen, das Zweifel an der 
Authentizität der publizierten Tagebücher wecken kann, andererseits aber dazu 
nötigt, den literarischen Anspielungen und Bezügen größeres Gewicht beizumessen.

Der leidenschaftliche Leser Jünger, der auch in den Pariser Tagebüchern auf 
jeder Seite gegenwärtig ist, tritt damit gleichberechtigt neben den 
Zeitbeobachter. Aus wenigem kann man so viele Aufschlüsse über Jünger gewinnen 
wie aus seiner Physiognomie als Leser. Einen Teil seiner offenbar nie 
abreißenden Lektüren hat er in seinen Tagebüchern erwähnt, vieles dürfte 
unerwähnt geblieben sein. So läßt sich nicht ohne weiteres sagen, ob er im Lauf 
der Jahre alle Romane von Balzac gelesen hat. Es liegt aber nahe anzunehmen, 
daß er während der Pariser Jahre gerade diesen Autor auch als Auskunftsmittel 
über Geschichte und Mythos dieser Stadt besonders geschätzt hat.

In einer der Pariser Novellen Honoré de Balzacs findet sich nun eine 
merkwürdige Passage, die als ein kleiner Exkurs in eine nicht weniger 
merkwürdige Liebesgeschichte eingefügt ist. Es ist die Erklärung, was ein 
"Burgunder" sei: "Burgunder ist der volkstümliche und symbolische Name", 
schreibt Balzac, als handele es sich um einen Lexikoneintrag, "den man seit der 
Regierung Karls VI. anwendet, wenn die Glut mit einem heftigen Geräusch 
auseinanderspringt und auf den Teppich oder das Kleid ein Stückchen glühende 
Kohle schleudert, woraus leicht ein Brand entstehen kann. Das Feuer, sagt man, 
befreie eine Luftblase, die ein nagender Wurm im Herzen des Holzes 
zurückgelassen hat. Inde amor, inde burgundus. (Der Burgunder und die Liebe 
haben dieselbe Quelle.) Man zittert, wenn man die Kohle, die man mit soviel 
Fleiß zwischen zwei flammende Scheite gelegt hatte, wie eine Lawine dahinrollen 
sieht. Oh, das Feuer schüren, wenn man liebt, heißt das nicht, seinen Gedanken 
körperlich entwickeln?"

Die entscheidenden Motive der Burgunderszene sind in diesem "Burgunder" 
beisammen: die zerplatzende Glut, das Feuer, sein bedrohliches Hervorspringen, 
die Liebesgedanken und, wie Balzac mit Stendhal sagt, die "Kristallisation". 
Die Verbindung der Gefährlichkeit der zerplatzenden Glut mit der Träumerei am 
Feuer könne, so Balzac, angeregt durch das Schauspiel des "Burgunders", dazu 
führen, daß die Gedanken eine körperliche Realität annehmen - all dies 
entspricht den Elementen der Burgunderszene, die dieses Kamingeschehen 
vergrößert zu einer abendlichen Überschau über Paris, das an seinen Rändern von 
Explosionen heimgesucht wird.

Vor allem aber könnte Balzacs kleine, vielleicht fiktive Etymologie - die 
Herausgeber der Pléiade-Ausgabe der "Comédie humaine" bleiben an dieser Stelle 
eine Erklärung schuldig - in das Glas, das der Schriftsteller auf dem Dach des 
"Raphael" in der Hand hält, den Burgunder hineingegeben haben, der an dieser 
Szene so provozierend wirkt. Der Protagonist von Balzacs "Étude de femme" aus 
den "Études de moeurs: Scènes de la vie privée" ist eine der wiederkehrenden 
Figuren der "Comédie humaine", nämlich Rastignac, der durch ein geschicktes 
Manöver bei einer Dame der großen Gesellschaft eine "Kristallisation" bewirkt. 
Darum mag es auch Jünger gegangen sein. Ihn verbindet aber mit Rastignac noch 
mehr. Als dieser aus der Provinz nach Paris gekommen war, hatte er auf die 
Stadt geblickt und ihr zugerufen: "Und nun zu uns beiden."  Henning Ritter



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